berliner szenen: Vom Hof in die Neunziger
Schwülstige Finger greifen in den Raum, aufgerissene Augen funkeln, ein wankender Gigant. Durchs zurückweichende Publikum geht ein Raunen. Bewegt von drei Schwarzgekleideten erkundet die furchterregende Marionette den Hinterhof, der heute Bühne und Zuschauerraum ist. Dann erklingt Musik, metallisch, der Riese stampft auf und tanzt erstaunlich leichtfüßig.
Schwebende Medusen folgen, flirrende Tentakel, so geschickt geführt, dass ich mich unter Wasser wähne. Dann Vögel in verschiedenen Formationen und schließlich ein besonders großes Exemplar mit langem Hals und Geierschnabel, es schreit wie ein Pfau: ein riesiger obszöner Vogel der Nacht. Trotz des ganzen Spektakels ist die Story simpel: Der Gigant mit den Pranken will gar nicht böse sein und als der Vogel im Sterben liegt, streichelt er ihn und flößt ihm neue Kraft ein. Vereint in Freundschaft ziehen sie von dannen. Auf der Brandmauer die Projektion eines Mondes.
Den ganzen Tag waren auf den Hinterhof in Rixdorf nasse Schneeflocken gefallen, die Kälte zog osmotisch über die Schuhsohlenmembranen in meinen Körper. Nach Vorstellungsende schloss ich mich verlegen der Prozession der Schausteller an, die die Puppen, der Gigant in seine Glieder zerlegt, auf Lastenrädern durch Neukölln schoben, alles gefertigt aus Recyceltem, die Feder des Vogels einst OP-Handschuhe.
Bald bogen wir in eine Seitenstraße, betraten einen Hof. Ich bot meine Hilfe an und trug eine der Pranken eine halbe Treppe hinunter, passierte einen Vorraum und einen Mauerdurchbruch. Dahinter eine riesige Halle, voll von Marionetten, Bildern aus Schrauben und Muscheln, kuriosen Maschinen aus Instrumenten und großformatigen Collagen. Ein Depot der Straßenkunst. Ich rieb mir die Augen: Ich war im Berlin der 90er. Timo Berger
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