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Schöpfen und stören

Die Hamburger Filmemacherin Nathalie David hat mit „Naegeli – Der Sprayer von Zürich“ ein berührendes Porträt des Graffiti-Künstlers geschaffen

Von Wilfried Hippen

Im Jahr 1984 saß der Graffiti-Künstler Harald Naegeli wegen „wiederholter Sachbeschädigung“ für sechs Monate in Zürich im Gefängnis. Im Jahr 2020 bekommt Naegeli den Kunstpreis der Stadt Zürich und zugleich stellte das Kunsthaus Zürich eine Strafanzeige gegen Naegeli, weil er wieder dessen Wände mit seiner Street-Art besprüht hatte. Die Anzeige wurde zwar zurückgezogen, aber nur wegen des „hohen Alters“ des nun 81-Jährigen.

Während sein Nachfolger Banksy inzwischen längst als etabliert gilt, ist Naegeli ein Bürgerschreck geblieben. Seine Werke werden von den einen geschätzt und von den anderen übertüncht. In einer Voicemail, die Nathalie David in ihrer Dokumentation „Naegeli – Der Sprayer von Zürich“ abspielt, erkundigt sich ein Zürcher Hausbesitzer, ob das Strichmännchen an seiner Wand denn ein „echter Naegeli“ sei. Dann würde er die Spray-Zeichnung bewahren, sonst würde er sie entfernen. Und Harald Naegeli, ein Großbürger, der von einer großen Erbschaft lebt, ist auch selbst in diesem Widerspruch gefangen: „Der Bürger in mir schämt sich, der Künstler jubelt“, sagt er mit schalkhaft blitzenden Augen in die Kamera.

Für Nathalie David, eine Hamburger Filmemacherin, die sich darauf spezialisiert hat, für Ausstellungen und Galerien Künst­le­r*in­nen­por­träts zu drehen, war dieses Projekt zuerst nur eine weitere Auftragsarbeit. Der Schweizer Filmproduzent Peter Spoerri bekam selbst keinen Zugang zu Naegeli, und David ist bekannt dafür, dass sie widerspenstige Künst­le­r*in­nen mit viel Charme und künstlerischer Integrität zur Mitarbeit bewegen kann. Naegeli war sehr krank, lehnte deshalb zuerst ab und war dann zu einem eine Stunde langen Interview bereit. Daraus wurden dann über 20 Stunden und David begleitete Naegeli mit der Kamera zwei Jahre lang, in denen er von Düsseldorf, wo er 35 Jahre lang „im Exil“ gelebt hatte, zurück in seine Heimatstadt Zürich zog, wo er dann auch schnell wieder begann, mit der Spraydose die Wände der Bürgerhäuser zu verzieren. Nun mit den tanzenden Gerippen seiner Schaffensphase „Totentanz“, die ursprünglich wohl durch seine Krebserkrankung inspiriert wurde, im Jahr 2020 aber eine perfekt passende Metapher für die Coronapandemie wurde.

„Der Bürger in mir schämt sich, der Künstler jubelt“

Harald Naegeli, Sprayer

Naegeli ist ein minimalistischer Künstler geblieben, der in seinen Zeichnungen und Graffiti mit wenigen Linien auf den Punkt kommt. Und auch Nathalie David macht minimalistische Filme, bei denen sie darauf vertraut, dass die Künst­le­r*in­nen sich selbst am besten darstellen und erklären können. Dabei kann sie sich so gut in deren Œuvres und Persönlichkeiten einfühlen, dass die Filme immer auch wie Selbstporträts wirken, bei denen David bescheiden Geburtshilfe geleistet hat.

So kommt in der ersten Hälfte von „Naegeli – Der Sprayer von Zürich“ fast ausschließlich der Künstler zu Wort. Bei Sitzungen in seiner Wohnung und seinem Atelier erzählt er davon, wie einfallsreich er selbst im Gefängnis seine Kunst produzieren konnte: Beim Tütenkleben schmuggelte er auf den Boden jeder Tüte eine kleine eigene Zeichnung heraus, und als er in der Werkstatt Porzellanteller verzieren musste, bemalte er sie in den Pausen mit eigenen Motiven, sodass es jetzt eine Handvoll Keramikarbeiten von ihm gibt. Und selbst die Beweismittel der Zürcher Polizei wurden schließlich zu Kunst: Die Ordnungsmacht archivierte in den späten 1970er-Jahren 343 Fotos von den „Sachbeschädigungen“ des Straftäters. Diese Sammlung wird nun als eine so gut wie vollständige Dokumentation seiner frühen Schaffensphase präsentiert. Selbst seine Inhaftierung sieht Naegeli inzwischen als Teil seines Lebens als Gesamtkunstwerk: „Das Gefängnis hat meinen Ruhm begründet.“

In der zweiten Hälfte des Films nutzt David dann doch noch sparsam historisches Archivmaterial wie die Fernsehaufnahmen der Überführung Naegelis von der Auslieferungshaft in Lübeck in die Schweiz, die Joseph Beuys in eine Soli- und Kunstaktion umfunktionierte. Als Kontrapunkt erklärt dann ein Schweizer Richter, warum er sich für eine Verschärfung der Strafe wegen „Uneinsichtigkeit“ eingesetzt hatte. Im letzten Drittel begleitet die Regisseurin Naegeli bei seiner Rückkehr nach Zürich.

Dabei ist es überraschend und oft auch sehr komisch, wie viel Sprengkraft immer noch in dessen Kunst steckt. Er muss einfach ständig schöpfen und stören, und so besprüht er nun wieder die Wände seiner „Philisterstadt“. Einige seiner Werke werden schnell wieder übermalt und für David ist dies ein Glück, denn so kann sie mit dem altbekannten, weil sehr effektiven Vorher-Nachher-Effekt arbeiten. Zumal das Kunsthaus Zürich sich blamiert, denn während dessen Gebäudeverwaltung Naegelis Totentänzer übermalen lässt, ist die Kuratorin für moderne Kunst entsetzt über diese Vernichtungsaktion.

Von der schweren Erkrankung in Deutschland scheint er inzwischen gut genesen, und es bereitet ihm immer noch Spaß, die Zürcher Bieder- und Saubermänner zu ärgern. ­Nathalie David gelingt es, diese Freude zu vermitteln, und so endet ihr Film mit einem langen, herzlichen Lachen dieses Eulenspiegels von Zürich.

„Naegeli – Der Sprayer von Zürich“: Deutschland 2021, 97 Minuten

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