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Interaktiv mit Tastentelefon

Zwischen Fluxus und sozialem Netzwerk: Eine Ausstellung zur Künstlergruppe „Van Gogh TV“ und ihrem Projekt „Piazza Virtuale“ im Künstlerhaus Bethanien

Mike Hentz von „Van Gogh TV“ vor der von ihm gestalteten Überblickskarte Foto: Galya Feierman

Von Martin Conrads

Lange bevor Hugo zum Drink wurde, krächzte er im deutschen Fernsehen: im damaligen privaten Sender „Kabelkanal“ und der dort gesendeten interaktiven Videogameshow „Hugo“ war ab 1994 nachmittags ein gleichnamiger Kobold zu sehen, der computeranimiert Skateboard fahren oder auf schwimmenden Baumstämmen surfen konnte, gesteuert von den Zu­schaue­r*in­nen über die Tasten ihrer analogen Telefone in Echtzeit.

Möglich machte dies das bereits in den 1960er Jahren in den USA entwickelte Touch-Tone-Verfahren, durch das jede der Tasten auf der damals gerade die Wählscheibe ablösenden Funktionstastatur mit einem anderen Ton belegt wurde. Die Töne konnten als Informationssignal genutzt werden: Sichtbar für alle, die das entsprechende Fernsehprogramm eingeschaltet hatten, konnten so Grafikelemente bewegt oder eingeblendete Keyboardtasten gedrückt und so mit anderen Fern­seh­zu­schaue­r*in­nen gemeinsam Musik gemacht werden.

Im deutschsprachigen Fernsehen hatte „Hugo“ allerdings einen technischen, zumal künstlerischen Vorläufer, bei dem es weniger darum ging, den Zu­schaue­r*in­nen subtil die neueste „Hugo's Mega Dance“-CD oder ein Zeitschriften-Jahresabo unterzujubeln. Im Sommer 1992 sendete die Künstlergruppe „Van Gogh TV“ aus einem hierfür in Kassel errichteten Containerdorf regelmäßig über die hunderttägige Dauer der dort stattfindenden documenta IX in einem Programmfenster des Fernsehsenders 3sat.

Die Initiatoren des als „Piazza Virtuale“ betitelten Projekts, die Künstler Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger, Mike Hentz und Salvatore Vanasco, hatten nicht nur die damaligen Programmverantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Senders überzeugen können, sich auf ein interaktives Fernseh- und Medienkunstexperiment einzulassen, bei dem bei Vertragsunterzeichnung völlig unklar war, was genau live gesendet werden würde.

Sie hatten hierfür auch die aus handelsüblichem Equipment bestehende Technik organisiert, ein Team zusammengestellt sowie ein internationales, sich von Hamburg und Ljubljana bis nach Moskau und Tokio erstreckendes Partner-Netzwerk („Piazettas“) aufgebaut, das sich mit eigenen Sendeformaten am Programm beteiligte.

Über Telefon, Fax, Modem oder Bildtelefon konnten 3sat-Zuschauer*innen das Programm mitgestalten, konnten so über das Fernsehen Bild- und Textnachrichten veröffentlichen, per Touch Tone Bildschirmelemente steuern und Töne abspielen, flirten, sich politisch äußern – oder sich einfach nur selbstreferenzielle „Hallos“ zurufen, weshalb „Van Gogh TV“ bald auch den abwertend gemeinten Spitznamen „Hallo TV“ erhielt. Zu hören und sehen sind diese Zeugnisse einer frühen technologisch vernetzten Öffentlichkeit nun in einer Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien.

Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts hatte der in Mainz lehrende und in Berlin lebende Autor und Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel die Geschichte von „Van Gogh TV“ und der „Piazza Virtuale“ in den letzten Jahren bereits wissenschaftlich erschlossen. Die von ihm kuratierte Ausstellung „Van Gogh TV: Piazza Virtuale“, die von einem virtuellen Pendant im www und der Veröffentlichung eines aufschlussreichen Buchs begleitet wird, zeigt nun Bild- und Textdokumente, Programmausschnitte aus den Sendungen oder technische Geräte, die in Zusammenhang mit „Van Gogh TV“ standen.

Auf einer raumgreifenden, von Mike Hentz gestalteten Überblickskarte sind dabei, neben der „Piazza Virtuale“ im Zentrum, nicht nur Vorläufer- und Nachfolgeprojekte von „Van Gogh TV“ visualisiert, sondern auch subjektive zeitgeschichtliche und medienhistorische Zuordnungen aufgeführt, sodass sich auch Be­su­che­r*in­nen zurechtfinden können, denen die medienkünstlerische Koppelung von Telefon und Fernsehen nicht mehr so avantgardistisch erscheint.

Den im Nachhinein als pionierhaft gelabelten Aufbruch der „Piazza Virtuale“ rahmt Baumgärtel, auch unter Hinzunahme von Arbeiten weiterer Künst­le­r*in­nen wie Fred Forest oder Miranda July, kuratorisch ein und stellt „Van Gogh TV“ so als Erben der Fluxus-Bewegung und die „Piazza Virtuale“ als Erfindungsmoment der sozialen Medien dar.

Ein in der Ausstellung zu sehender Film zeigt, was nach den 100 Tagen „Piazza Virtuale“ außer Erschöpfung, leeren Kassen und dem Rauschen der Apparate blieb: die Erinnerung daran, wie Künstler mit einem hohen Grad kollektiv gewollter und institutionell garantierter Freiheit das Massenmedium Fernsehen für das Individuum im Sinne einer zweiseitigen Kommunikation öffnen und verändern wollten.

Kurz nach 1992, in den anarchischen Anfangsjahren des World Wide Web, schien dieser Versuch – nun mit Computern statt Fernsehgeräten – sogar Früchte zu tragen. Mark Zuckerbergs diesjährige „Metaverse“-Keynote zeigte jedoch einmal mehr, wie weit dieser emanzipatorische Traum zurückliegt.

Bis 5. Dezember, im Künstlerhaus Bethanien, Kottbusser Straße 10/d, Di.–So. 14–19 Uhr

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