Kollektiv Signa in Hamburg: Aalrituale in Gummistiefeln

Schlechte Gerüche im Wald: Das dänisch-österreichische Kollektiv Signa inszeniert im Paketpostamt Altona seine neue Performance „Die Ruhe“.

Frau sitzt am Schreibtisch, dahinter fantastische Wesen

Mareike Wenzel und namenlose Waldwesen in „Die Ruhe“ Foto: Erich Goldmann

Sanft legt er seinen Kopf in die Erde. Atmet ihren Geruch ein, als wäre er nun erlöst. Dann greift er mit seinen Händen in den Humus, wühlt Laub, Zweige, einen Regenwurm hervor und legt ihn zärtlich auf seine Hand. Der zehn Zentimeter lange Wurm schlängelt, windet sich. Wir knien davor, sollen ihn halten, streicheln, küssen. Ich erzähle von fiesen Kinderstreichen mit Scheren und von der Pausenhofwette meines Bruders. Da nimmt Hans (Omid Tabari) das Tier in den Mund, schiebt es erregt mit seiner Zunge hin und her.

Kurz scheint sich der Wurm noch herausschlängeln zu können, dann beißt der Performer zu. Lustvoll wühlen seine Kiefer, erotisiert kaut er minutenlang. Dabei stöhnt er und beruhigt sich erst, als er den Wurm ganz hinuntergeschluckt hat. Jetzt sei er wieder eins geworden mit der Natur, sagt er fast entschuldigend, und die Natur in ihm.

Dieses Tier sei ein Bote des Waldes und der Wald schließlich der Ort, auf den wir an diesem Abend vorbereitet werden sollen. Denn dort würden wir, die Präparanden, Ruhe finden. Ein schönes Versprechen. Und – bei einer Signa-Performance – ein gleichermaßen trügerisches.

„Die Ruhe“ ist die jüngste Arbeit des dänisch-österreichischen Performance-Kollektivs und bedeutet fünfeinhalb Stunden Intensiv-und-interaktiv-Theater im leer stehenden Paketpostamt Altona (ein Bau aus den 60er Jahren, so hässlich wie sein Name), bei dem man von der ersten Minute die gemütliche Rolle des passiven, aber 2G-plus-Zuschauers verlässt und sich einlassen muss auf unnachgiebige, viel zu persönliche Fragen, absichtliche Grenzüberschreitungen und unvermittelte Interaktionen.

Kuraufenthalt im „Erholungsinstitut Hamburg“

Eine Performance, während der man in eine entrückte Parallelwelt eintaucht: mit 30 weiteren Theaterbesucher*innen, genauso vielen unbeirrbaren Spieler*innen, zahlreichen, grandios inszenierte Räumen, tröpfelnden Thermoskannen, herzzerreißend traurigen Gesangseinlagen und Suppen, die aussehen wie schlecht püriertes Katzenfutter. Es ist eine dieser atmosphärischen, sogartigen Performance-Installationen, für die man sich aber auch wappnen sollte. Denn so leicht führt kein Weg wieder hinaus.

Die Botschaft scheint diesmal friedlicher: Ein Kuraufenthalt im „Erholungsinstitut Hamburg“ wird den Teil­neh­me­r*in­nen versprochen, einer, der diese nach verschiedenen Anwendungen auf ihren endgültigen Umzug in den dichten Wald vorbereiten soll. Der Wald: Mythos und Sehnsuchtsort der Romantik – und der Gegenwart, da garantiert coronafreie Zone.

Die Szene mit dem Regenwurm ist also nur eine von vielen Anwendungen, die Aurel (Martin Heise) für uns – eine zufällig zusammengewürfelte Kleingruppe – vorbereitet hat. Aurel ist unser „Bezugswanderer“ und ehemaliger Patient einer psychia­trischen Heilanstalt. Doch all deren Insassen und The­ra­peu­t*in­nen sind eines nachts, wie die Aale dem Ruf der Sargassosee, dem Ruf der Natur gefolgt, heißt es. Und lebten nun im „Fasanenwald“ in der „Wald-Zweisamkeit“ oder, das ist das höchste Ziel: der „Wald-Einsamkeit“.

Dass dieser Wald kein so guter Ort ist, merkt man bald. Zu verstört wirkt Aurel, zu stockend ist seine Erzählung, zu tränenschwer sein Blick. Nach einer gemeinsamen Tasse modrigen Birkenrohrling-Tees sollen wir alles mitgebracht Unruhige ablegen und fortan in einer hellgrauen „Kuschel-Tracht“ von Raum zu Raum gehen.

Ein intensiver wie verwirrender Abend

Dort breiten Spie­le­r*in­nen ihre surrealen Träume über uns aus wie bleierne Gewitterwolken, animieren uns in Gummistiefeln zu kreiselnden Aal-Ritualen oder lassen eine afrikanische Riesenschnecke über unsere ineinander verwobenen Handflächen (meine Hand liegt ganz, ganz unten!) gleiten und immer wieder tief in den Bauch atmen. Über die endlosen Lino­leum-Flure wabern dumpfe Tonspuren und schlechte Gerüche, huschen fremdartige, in Fell, Äste und Laub gehüllte Wesen.

Von fern tönen schiefe Blockflöten, laute Schreie und auch mal ein Vogelruf. Im Anwendungsraum „dunkler Wald“, unter tief hängenden Ästen, ausgestopften Vögeln und bröselndem Laub, wähnt man sich am Ziel. Doch dort weint Sandra (Signa Köstler) so bitterlich um ihren Geliebten Ewald und ist es so unfassbar dunkel, dass man den als Schwarzbären kostümierten Performer erst wahrnimmt, als dieser direkt vor einem steht.

Mehr poetisch-assoziativ als stringent erzählen Signa Köstler und ihre Per­for­me­r*in­nen in „Die Ruhe“ vom Menschen und seiner Projektionsfläche Wald – und dabei irritierenderweise so gar nicht vom Wald als potenziellem Klimaretter. Eine aufdringliche Mystik macht „Die Ruhe“ zu einem so intensiven wie verwirrenden Abend.

Zu einem Abend, der einen Ausweg verspricht und Albträume auslöst, der Sehnsüchte triggert und zarte Seelen verletzt, der Mutproben und laubreiche Geisterbahnen bereithält, sektenartige Rituale vollzieht und innige Kleingruppen-Dynamiken ermöglicht. Es ist ein Abend, der einem nahegeht, unheimlich ist und unheimlich gut in diese Zeit passt, in der sich eine erschöpfte Orientierungslosigkeit breitmacht und damit die Sehnsucht nach „Ruhe“.

Es ist ein Abend, der von Metamorphosen erzählt und vom Tod, und es ist ein Abend, der einen unfassbar froh macht, in der Stadt (und nicht im Wald) zu leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.