Tarifeinigung im Einzelhandel: Stiller Sieg für stille Helden
Die Beschäftigten im Berliner Einzelhandel haben sich 4,7 Prozent Lohnerhöhung erstreikt. Eigentlich wäre mehr nötig, zeigt ein neuer Branchenbericht.
Aber haben Sie, werte Leser*innen, mitbekommen, dass in den Alltagsgeschäften Ihres Vertrauens seit Juli ein Arbeitskampf tobte? Haben Sie einen Pullover weniger kaufen können, weil Ihre Lieblingsboutique bestreikt wurde? Hat Sie die Nachricht erreicht, dass es am 19. Oktober eine Tarifeinigung gab und die Beschäftigten, auch die rund 78.000 in Brandenburg, in den kommenden 24 Monaten 4,7 Prozent mehr Lohn und Gehalt bekommen sollen? Eben!
Dabei kann sich jede*r vorstellen, dass die Lohntüten von Verkäufer*-, Kassierer*- und Lagerist*innen nicht die dicksten sind. Tatsächlich hat die Branche, in der 61 Prozent der Beschäftigten Frauen sind, einen ausgedehnten Niedriglohnsektor von 36 Prozent. Niedriglöhne sind Verdienste von weniger als zwei Drittel des mittleren Verdienstes aller abhängig Beschäftigten, 2018 lag die Niedriglohngrenze in Deutschland bei 11,05 Euro brutto je Stunde.
Viele Beschäftigte arbeiten unter prekären Umständen, heißt es im Branchenbericht „Beschäftigung im Berliner Einzelhandel“, der im Rahmen des Projekts „Joboption Berlin“, gefördert von der Senatsverwaltung für Arbeit, von der Beratungsgesellschaft ArbeitGestalten erstellt wurde. 44 Prozent seien nur teilzeitbeschäftigt, „häufig unfreiwillig“, sagt Cosima Langer aus dem Projektteam. „Befragungen zeigen, dass ungefähr ein Viertel gerne mehr arbeiten würde, weil der Verdienst in Teilzeit nicht kostendeckend ist.“ 14 Prozent sind laut Report ausschließlich geringfügig beschäftigt, der Minijob ist also ihre Hauptverdienstquelle, nur 41 Prozent haben eine Vollzeitstelle.
Immer mehr „Arbeit auf Abruf“
Und auch mit der verdient man nicht die Welt. So bekommt Oliver Kirk, der 38 Wochenstunden in der Abteilung Feinkost, Molkerei- und Tiefkühlprodukte bei Edeka in Bernau arbeitet, bislang 2.660 Euro brutto. Netto sind das rund 1.700, weil er auch in eine private Rentenversicherung einzahlt. Mit der Tarifeinigung werden es wohl 70 Euro brutto mehr sein, schätzt er. Dem 33-jährigen gelernten Einzelhandelskaufmann reicht das zwar, sagt er. „Aber wenn man damit als allein Tätiger eine Familie unterhalten müsste, kann das wohl nicht klappen.“
Verschärft wird die prekäre Lage vieler Beschäftigter durch die zunehmende Tendenz zur „Arbeit auf Abruf“, erklärt Sozialwissenschaftlerin Langer. Das bedeutet: Im Arbeitsvertrag ist zwar eine wöchentliche Arbeitszeit festgelegt, allerdings kann sie um 25 Prozent nach oben oder 20 Prozent nach unten flexibel gestaltet werden. „Das läuft darauf hinaus, dass Beschäftigte morgens auf einen Anruf warten, weil sich jemand krank meldet und sie spontan reinkommen können“, erklärt die Branchenexpertin. Betroffen sind vor allem diejenigen, die in ungewollter Teilzeit von 10 Wochenstunden arbeiten und darauf angewiesen sind, mehr Schichten zu übernehmen. Eine gesicherte Finanz-, Zeit- und Urlaubsplanung ist unter solchen Voraussetzungen unmöglich.
Corona hat die unsichere Lage weiter verschärft: In den Lockdowns wurden viele Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt oder standen als Minijobber*innen auf einmal ganz ohne Arbeit und Lohn da. 19 Prozent der Mitarbeitenden waren laut Report im April 2019 in Kurzarbeit, „das Geld fehlte den Menschen natürlich, gerade im Niedriglohnsektor“, so Langer, auch wenn der Staat das Kurzarbeitergeld je nach Kinderzahl aufgestockt hat.
Dann, als die „nicht lebensnotwendigen“ Geschäfte wieder öffneten, kamen plötzlich neue, ungewohnte Aufgaben auf die Beschäftigten zu: das Durchsetzen der Hygiene- und Abstandsregeln bei den Kund*innen. „Bei unseren Befragungen haben wir viel gehört von mangelndem Respekt und zusätzlicher Belastung“, erzählt Langer. Viele hätten sich mehr Unterstützung durch die Geschäftsführung gewünscht, etwa Trainings für den Umgang mit respektloser Kundschaft, Aufstockung der Kurzarbeit auf 100 Prozent durch das Unternehmen oder angemessene Sonderzahlungen.
Pampige Kunden erschweren den Job
Auch Kirk findet, dass die Arbeitsbelastung durch Corona zugenommen hat. „Die Leute sind teils nicht mehr so nett.“ So mancher reagiere „pampig“, wenn man ihn auf die fehlende Maske oder den Mindestabstand hinweise. „Den Kunden ist das völlig egal“, sagt er. Diese Gedanken- und Rücksichtslosigkeit ist bemerkenswert, schließlich wurden die Supermarktbeschäftigten zu Beginn der Coronakrise – ähnlich wie die Pflegeberufe – als „Helden der Arbeit“ öffentlich gefeiert.
Doch auch von den teils satten Umsatzgewinnen, die vor allem der Lebensmitteleinzelhandel während Corona gemacht hat, haben die Beschäftigten nicht profitiert. „Es gab keinen automatischen Trickle-down-Effekt – also dass die Beschäftigten profitieren, wenn das Geschäft gut läuft“, sagt Langer. Und ob die Tarifeinigung – 3 Prozent mehr ab 1. November und noch mal 1,7 Prozent ab Juli 2022 – einen genügenden Ausgleich schafft, darf bezweifelt werden. „Wenn man sieht, wie sich aktuell die Energiepreise und Mieten entwickeln, ist das eigentlich doch nicht genug“, findet Kirk. Einen Teil der gestiegenen Inflation werden die Arbeitnehmer*innen wohl selbst zahlen müssen, befürchtet er.
Umsatz und Beschäftigung Im Berliner Einzelhandel waren 2018 laut Branchenbericht rund 125.000 Menschen beschäftigt, die meisten im Bereich Lebensmittel (35 Prozent), Onlinehandel und Mode (je 14). Den meisten Umsatz machen Lebensmittel (33) und Online (25). Von 2010 bis 2019 stieg der Umsatz der Branche kontinuierlich – und zwar stärker als der Zuwachs der Beschäftigten. Im Bereich Mode gab es in den Jahren von 2015 bis 2019 Beschäftigungsabbau.
Konkurrenzdruck Von den mehr als 8.000 Einzelhandelsunternehmen (Tendenz seit 2015: sinkend) haben 84 Prozent nur 1 bis 9 Mitarbeiter*innen. 45 Prozent aller Beschäftigten arbeiten in mittelständischen bis großen Betrieben (mehr als 50 Beschäftigte). Ein starker Preiswettbewerb durch große Ketten und Onlinehandel führt seit Jahren zu Verdrängung und Konzentration.
Weniger „gute Arbeit“ Der starke Wettbewerb geht vor allem zulasten der Beschäftigten: Arbeitsverhältnisse und -zeiten wurden je nach Bedürfnissen der Unternehmen flexibilisiert, Personal durch Technik wie automatische Kassensysteme oder RFID-Chips ersetzt.
Infos Der Branchenbericht ist hier einsehbar oder kann bei der Beratungsgesellschaft ArbeitGestalten bestellt werden. (sum)
Doch obwohl es also gute Gründe gibt für Unzufriedenheit unter den Beschäftigten, war die Beteiligung beim Arbeitskampf nicht eben überwältigend. Hier mal 1.000 Leute bei einer Kundgebung an der „Streikzentrale“ Breitscheidplatz, dort ein Streikposten vor einer Rewe-, Edeka- oder Ikea-Filiale: Für Kund*innen war das wenig spürbar.
Bei Kirks Edeka in Bernau zum Beispiel, wo nach seinen Angaben rund 140 Menschen beschäftigt sind, „haben nur fünf bis sechs Leute gestreikt“ – das waren nicht mal alle, die in der Gewerkschaft sind, deren Zahl schätzt er auf etwa 15. „Ich habe mich auch mal vor die Filiale gestellt und versucht, die Kollegen mitzunehmen. Aber das hat nicht so gut geklappt, die wollten alle arbeiten.“
Keine Allgemeinverbindlichkeit
Ein bisschen ärgert es ihn daher schon, dass (wie immer bei Streiks) auch die Nicht-Gewerkschaftler nun die „Früchte“ des Arbeitskampfs genießen können. „Das ist unfair“, findet er. Dank oder Lob für seinen Einsatz habe er auch nicht bekommen, obwohl er das Ergebnis gleich im Pausenraum aufgehängt habe. „Man kann nur hoffen, dass die Leute endlich wach werden.“
Zumal ein Großteil der Beschäftigten tatsächlich nichts von der Lohnsteigerung abbekommen wird: Der Organisationsgrad auch der Arbeitgeberseite ist so gering, dass die Gewerkschaft sich nicht mit der Forderung durchsetzen konnte, die Allgemeinverbindlichkeit des neuen Vertrages zu beantragen. Gelten wird er daher nur für 27 Prozent der Beschäftigten; insgesamt unterliegen nur noch 18 Prozent der Einzelhandelsbetriebe in Berlin der Tarifbindung.
„Sehr bedauerlich“, findet das Langer. Ebenso, dass in Ostberlin – wie in Brandenburg – weiterhin eine Wochenstunde mehr gearbeitet werden muss als in Westberlin: 32 Jahre nach dem Mauerfall.
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