: Ewigkeit ein Stück verkürzt
Am Mittwoch wurde der zweite Tonwechsel beim Cage-Orgelstück „Organ2“ begangen
„Eins. Zwei. Drei“, rufen sich die beiden Männer zu. Dann ziehen sie zwei kleine Pfeifen aus der Orgel. Fotoapparate klicken. Nach zwölf Monaten ist der Dauerton in der Halberstädter Buchardi-Kirche um ein Gis und ein H ärmer. Die Zuhörer stehen schweigend um die kleine Orgel und lassen den neuen Ton auf sich wirken. Bis zum 5. Januar 2006 wird er die Kirche erfüllen. Dann steht der dritte Tonwechsel an – beim längsten Musikstück der Welt.
„Organ2/ASLSP“, ein Orgelstück des Komponisten John Cage (1912 bis 1992), wird seit dem 5. September 2001 in Halberstadt Tag und Nacht aufgeführt. Ohne Unterbrechung. Gespielt von einem automatischen Blasebalg und drei Sandsäckchen, die die Orgelklaviatur nach unten ziehen. 634 Jahre wird das Stück noch dauern. 25 Generationen soll John Cage in Halberstadt begleiten.
„As slow as possible“ – „So langsam wie möglich“ war Cages Tempoanweisung. Bei der Uraufführung 1987 dauerte das Stück etwas länger als 29 Minuten. Nicht langsam genug für die Initiatoren des Halberstädter Experiments. Sie zählten vom Jahr 2000 bis zur Einweihung der Blockwerkorgel 1361 im städtischen Dom 639 Jahre zurück. „So langsam wie möglich“ heißt für die Initiatoren aus der John-Cage-Orgel-Stiftung: so lange, wie die Orgel orgeln kann.
„Die neuen Töne finde ich gut.“ Einige Minuten nach dem Tonwechsel trauen sich die ersten Zuhörer wieder miteinander zu reden. „Irgendwie zeitgemäßer, luftiger“, sagt da einer ganz ernsthaft. Sein Gegenüber grinst. Der Ton ist tiefer geworden. Ein E-Dur-Akkord schallt durch die alte Kirche. Wenn man sich in dem leeren Raum bewegt, verändert sich der Ton. Er klingt überall ein wenig anders. Hinter der Orgel dumpf und tief, vor der Orgel etwas heller und schriller. Selbst wenn sich jemand zwischen die Pfeifen und die Zuhörer schiebt, verändert der Ton seine Klangfarbe. Bis weit vor die Kirche ist der Akkord zu hören – trotz schalldichter Fenster. „Also das war jetzt schon ein historischer Moment. Das hören wir so nie wieder“, sagt eine Frau, nachdem das Gis und das H verschwunden sind. Ihre kleine Tochter hält sich die Ohren zu und versucht den Ton nachzusingen.
„ ‚Organ 2‘ auf 639 Jahre zu dehnen war durchaus eine Herausforderung“, sagt Rainer O. Neugebauer. Der Mann ist einer von neun Kuratoriumsmitgliedern der Orgel-Stiftung und hat das Experiment mit berechnet. Eine Viertelnote ohne Staccato dehnt sich jetzt auf vier Monate. „0,2 Sekunden der Uraufführung dauern bei uns vier Wochen“, sagt Neugebauer. Da kann es schon mal zu kleinen Pannen kommen. In die vorläufige Berechnung des zweiten Klangwechsels hatte sich ein Schreibfehler eingeschlichen. Um ein Haar wären das Gis und das H schon ein Jahr früher verstummt. Nachdem der Zeit-Journalist Oliver Stock zufällig auf den Druckfehler stieß, wurde das Stück behutsam angeglichen. „Jetzt sind wir wieder im Fahrplan“, sagt Neugebauer. Wirklich dramatisch war der Berechnungsfehler allerdings nicht. Umgerechnet auf die 29-minütige Uraufführung, hatten sich die Initiatoren dabei lediglich um rund 2,5 Sekunden vertan. PHILIPP DUDEK