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Sich-Einrichten im Ephemeren

Diese Fotografie ist beobachtend, analytisch, laid-back, unsentimental und verkörpert nordamerikanische Befindlichkeiten: Retrospektive des US-amerikanischen Fotografen Lee Friedlander bei C/O Berlin

Von Ulf Erdmann Ziegler

Vielleicht musste erst Robert Frank sterben, damit der Blick auf Lee Friedlanders Werk scharfgestellt werden konnte. Indirekt und vertrackt in der formalen Konstruktion – nicht nur eines Bildes, sondern auch einer Serie –, galt seine Arbeit lange als formalistisch. Das aber ist falsch. In seinen Motiven ist Friedlander seit Ende der 50er Jahre an Kernthemen dran gewesen: an der musikalischen Kultur von New Orleans, an den problematischen Denkmälern der Südstaaten, an der kommerzialisierten Stadtlandschaft, den Arbeitsplätzen von den Industrien bis zum Call Center; an klassischen Themen auch wie Familie, Akt, Porträt und Landschaft. Aber in unklassischer Weise.

Seine Technik ist dabei seine Ästhetik und diese ist sein Blick und der Blick ist die Deutung, und die Deutung macht genau dort halt, wo der soziale Kommentar einsetzt. Das heißt, Friedlanders Bilder sind vielschichtig. Ihr fotografisches Subjekt hat mehrere Kammern des Bewusstseins durchlaufen, bevor es ans Licht tritt oder ans Licht gezerrt wird, sodass die Betrachter(innen) seiner Bilder einen Schmerz oder Phantomschmerz in sich spüren, wie Platon es beschrieben hat, wenn man aus einem Trugbild gerissen und von der Freiheit der Wahrnehmung geblendet wird. Friedlanders Fotografien zielen verwegen auf ein freies und mündiges Publikum.

Gemütliche Unbehaustheit

Etwa in der Mitte des Rundgangs in der Lee-Friedlander-Retrospektive bei C/O Berlin findet man ein zentrales Bild, aufgenommen (obwohl „wahrgenommen“ es besser treffen würde) an der Straßenkreuzung einer namenlosen Avenue und der 12. Straße von „Albuquerque, New Mexico“ an einem heißen Tag im Jahr 1972. Es zeigt einen Hochhausblock, ein koloniales Wohnhaus, den „Galgen“ der amerikanischen Ampel, eine weitere (freistehende) Ampel, einen schiefen Telefonmasten aus Holz und einen Feuerhydranten – das alles fast oder nahezu vollständig. Dazu einen weißen Straßenkreuzer, nur soeben angeschnitten, das schraffierte Pflaster der Straße selbst, aus Backsteinen gelegte und betonierte Gehwege, Unkraut, Bäume in der Distanz, einen Himmel ohne jede Kontur. Das Bild hat überhaupt keine Leserichtung, ist geradezu erschreckend ausbalanciert, wenn man bedenkt, dass niemand diese Ansicht jemals geplant haben kann. Es ist die eines Fotografen ganz allein, ja es ist tatsächlich niemand zu sehen. Ein sitzender schwarzer Hund mit herausgestreckter Zunge. Aber auch dieser ist eingewoben ins Bildgitter, quasi durchgestrichen von einem vertikalen grauen Balken, einer schmalen, nackten Eisenstange.

Diese Fotografie ist beobachtend, analytisch, laid-back, unsentimental. Sie hängt sich nicht an das, was konsensbildend wirkt: das Schöne, das Rare, das Prominente, das Narrativ. Insofern verkörpert sie nordamerikanische Befindlichkeiten: die gemütliche Unbehaustheit, das Sich-Einrichten im Ephemeren, die verspielte Freude an Nebensächlichem. Fotografen erklären sich das gern mit der eigenen Chronik, in der Nachfolge des kühnen Werks von Walker Evans zum Beispiel. Aber das alles ist viel zu eng. Gewiss hat Friedlander, so kurios das klingt, die Musik Charlie Parkers die Augen geöffnet. Er ist ein Leser Prousts, also einer Literatur der Indirektheit mit gewaltigen gesellschaftlichen Implikationen. Und Friedlander war ein enger Freund des Malers Kitaj, dessen Bilder aus einem tiefen Sinn für die Gleichzeitigkeit des Unvergleichlichen gespeist sind.

Lee selbst verkörpert den all American guy, der – die Augen groß und das Kinn fliehend – als Schatten, als Voyeur, als Mann im Rückspiegel durch das eigene Werk geistert, anfangs ein schlichter Mime und gegen Ende ein (gegen sich selbst) rücksichtsloser Clown. Wenn man ihm begegnet und ihn etwas fragt, zuckt er mit den Schultern, so als hätte er von Matisse oder Bonnard, von Strukturalismus oder Postmoderne noch nie etwas gehört. Er ist der Mann mit einer Frau – Maria –, einer Familie, einem Haus (in New City, New York), und (früher) einem eigenen Verlag. Gehätschelt von einem Museum, dem Museum of Modern Art.

Jüdischer Hintergrund

Geboren wurde Lee Friedlander 1934 als Sohn eines Holz- und Mineralienhändlers an der Westküste, der mit dreizehn Jahren, soeben vor dem Ersten Weltkrieg, aus Breslau gekommen war; aus Fritz wurde Fred. Von dessen vier Schwestern überlebte nur eine den Holocaust. Sie kam in Aberdeen, Washington, an, als Lee selbst dreizehn war. Der jüdische Hintergrund wird gern übersehen, ist aber wichtig, auch um Friedlanders Nähe zu den schwarzen Amerikanern zu verstehen. Eine Weile, als ganz junger Mann, war er Coverfotograf für Atlantic Records. Von ihm stammt das eindringliche, ungekünstelte Doppelporträt von Milt Jackson im Vordergrund und Ray Charles leicht unscharf hinter ihm.

Dieses Frühwerk, in Farbe, hat in gut gemachten, zeitgenössischen Pigmentdrucken in diese Ausstellung gefunden. Der große Rest, das schwarzweiße Werk, sind echte Vergrößerungen aus der Dunkelkammer. Zu jeder Werkgruppe gibt es eine aus der Wand schwebende Vitrine mit dem Buch dazu. Tatsächlich ist fast das gesamte Werk in Büchern niedergelegt, projektorientiert bis circa 2000, dann – etwas simpler – retro­spektiv nach Themen oder Motiven. Wie immer bei C/O Berlin sind die Räume in unterschiedlichen Farben gestrichen, und die Beleuchtung wurde so eingerichtet, dass die Bilder leuchten, während die Säle selbst dunkel sind.

Bei solcher Feierlichkeit fällt umso stärker ins Gewicht, dass die Fotografien nicht dem Standard gemäß gerahmt sind. Es wurde ein Mattglas verwendet, das es im musealen Bereich seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gibt, und zwar deshalb, weil der gewisse Effekt von Entspiegelung durch einen Verlust an Brillanz mehr als nur nivelliert wird. Man nimmt jetzt ein hochgradiges UV-Glas von einem litauischen Produzenten. Geliefert hat die Bilder in dieser Form die Madrider Mapfre, die über die Jahre wesentliche Bildgruppen Friedlanders angekauft hat.

Mit einfachem Glas gerahmt, also ohne Verlust anzuschauen, sind: „Albuquerque, New Mexico“; das Porträt Aretha Franklins im ersten Saal; „New Or­leans, Louisiana“ aus der Serie „Sticks & Stones“, „Near Missaula“ aus „Western Landscape“ und das Porträt Sandra Fishers im letzten Saal. Da ahnt man etwas von der „offenen Anmut und Sinnlichkeit“ dieser Fotografie, die ein Kurator namens Peter Galassi vor Jahren so benannt hat. Man müsste die Ausstellung drei Tage schließen und die Bilder neu rahmen. Der Buchladen sollte die lieferbaren Bücher – es sind ungefähr zwanzig – bei sich auslegen. Zurzeit führt er nur den spanischen Katalog in der englischen Fassung.

Lee Friedlander, Retrospektive, C/O Berlin, bis 3. Dezember.

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