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Wegsehen unmöglich

Sonya Schönberger erinnert in einer Installation im Schwerbelastungskörper in Tempelhof an Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus

Von Eva-Lena Lörzer

Erst auf den zweiten Blick lassen sich die Nägel, die über den Boden verstreut liegen, als Nägel identifizieren. Es sind so viele, dass sie im matten Licht zu einer Masse zu verschmelzen scheinen. Einer grauen Masse auf rotem Grund. Doch die 13.000 Nägel, die in Sonya Schönbergers begehbarer Rauminstallation im Schwerbelastungskörper auf rot gestrichenem Boden verstreut wurden, sind nicht irgendwelche Nägel. Sie stammen von archäologischen Ausgrabungen dreier Zwangsarbeiterbaracken auf dem Tempelhofer Feld und stehen für die Menschen, die dort im Nationalsozialismus gezwungen wurden, für wenig mehr als eine harte Pritsche, eine Scheibe Brot oder eine Suppe sowie ein paar Reichsmark für die Lufthansa und die mittlerweile aufgelöste Weser-Flugzeugbau GmbH die deutsche Rüstungsindustrie am Laufen zu halten. Ihre Schicksale bleiben anonym. Genau wie die der 13 Millionen anderen, die während der NS-Zeit in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten und als Folge entweder an Unterernährung und Erschöpfung starben oder physisch wie psychisch für den Rest ihres Lebens gezeichnet waren. Was ihnen angetan wurde, ist für uns Nachgeborene kaum mehr zu fassen. Sie bleiben eine Zahl. Eine abstrakte Masse. So wie die Nägel.

Im Gegensatz zu den Menschen, für die sie stehen, aber lassen sich die Nägel im Schwerbelastungskörper nicht ignorieren. Beim Betreten des Raumes lässt es sich kaum vermeiden, auf sie zu treten. Ich spüre Beklemmung: Ich möchte keine Spuren verwischen. Mit ihrer Ausstellung zur Erinnerung an die Opfer der Zwangsarbeit auf dem Tempelhofer Feld, die bereits im Mai eröffnet wurde und noch bis Ende Oktober zu sehen ist, überschreibt Sonya Schönberger auch die Geschichte des Schwerbelastungskörpers. Historiker vermuten, dass für den Bau des unförmigen Zylinders aus Stahlbeton und Beton, den die Nazis nutzen wollten, um die Belastung des Untergrunds durch einen von ihnen geplanten, gigantischen Triumphbogen zu simulieren, ebenfalls Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen ausgebeutet wurden. Beweise gibt es keine: Die Zwangsarbeit war das sichtbarste und zeitgleich das am schlechtesten dokumentierte Verbrechen der Nazis. Vor dem Schwerbelastungskörper erklärt die Künstlerin, die sich auch in früheren Arbeiten mit der NS-Zeit beschäftigt hat und ein Langzeitarchiv von Zeit­zeu­g*­in­nen­stim­men aufbaut, es sei überfällig darüber zu reden, welchen Anteil die Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen am heutigen Wohlstand hätten. Ohne die 30 Millionen Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen in Rüstungsindustrie, Landwirtschaft und Kommunen hätte das Dritte Reich früher kapitulieren müssen. Ohne sie hätte sich nach 1945 nicht so schnell eine konkurrenzfähige Produktion aufbauen lassen. Die mangelnde Aufarbeitung macht sie wütend: „Niemand kann behaupten, er hätte von nichts gewusst. Die Menschen waren nicht zu übersehen.“ Die meisten Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen aber haben bis heute keine Entschädigung erhalten: Sie sind verstorben, ehe die mit den Zahlungen beauftragte Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ 45 Jahre nach Kriegsende gegründet wurde, haben als ehemalige Kriegsgefangene und zivile westeuropäische Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen keinen rechtlichen Anspruch oder konnten ihre Versklavung nie beweisen. Von einer Entschädigung für die Gewalt kann man in Anbetracht der Summen auch bei denen, die sie erhielten, kaum reden: Je nach Schwere der Arbeit wurden ihnen zwischen 2001 und 2007 einmalig Summen von 500 bis maximal 7.700 Euro ausbezahlt. Mit ihrer Installation, meint die Künstlerin, möchte sie denen eine Stimme geben, die nicht mehr für sich sprechen können. Und zeigen: „Ich erinnere euch. Und ich möchte, dass ihr erinnert werdet.“

Bis 31. Oktober

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