: Männersache
Sascha hat sich immer falsch gefühlt und lange nicht herausgefunden, warum. Bis er sich dazu entschloss, zu einem Mann zu werden. Seit einigen Monaten schaut er seinem Körper nun zu, wie er haariger wird, breiter und grober, und ist damit überglücklich. Eine Geschichte über Polarität, absurde Gesetzgebung und die Frage, was Geschlecht eigentlich ist. Denn wenn man bei Sascha auf dem Sofa sitzt, weiß man auch nicht mehr so genau, warum die ganze Welt in Männer und Frauen aufgeteilt sein muss
von Anna Hunger (Text) und Chris Grodotzki (Fotos)
Es war irgendwann vor einigen Monaten, ganz genau kann sich Sascha nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern, jedenfalls lag er im Bett und entdeckte das erste Haar, das frech mitten auf seinem Bauch wuchs. Ein echtes Männerhaar. „Es war großartig“, sagt er. Mit der Zeit wurden es mehr. Sie kamen büschelweise am Bauch, unter den Achseln, an den Unterarmen, an den Beinen. Zum Beweis zieht Sascha das T-Shirt hoch, unter dem sich ein dunkler Kranz um den Bauchnabel zieht; sogar im Gesicht sei kürzlich eins gewachsen, das irgendwann in der Zukunft vielleicht mal zu einem Bart gehören könnte. „Dann werde ich mir einen Vollbart stehen lassen“, sagt er und strahlt über das noch glatte Gesicht. Er habe einen Körperhaarfetischismus ausgebildet, sagen Freunde über ihn. Aber für Sascha sind diese Haare mehr als nur ein Fetisch. Sie machen ihn „richtig“. Sascha ist 24 Jahre alt und ein Transmann. Er wurde bei der Geburt als Mädchen einsortiert, fühlt sich aber nicht als eins. Er sitzt auf einem bequemen Sofa zwischen bunt bepflanzten Blumenkübeln auf einer Terrasse, die sich anfühlt wie Urlaub. Sascha ist zart und feingliedrig und gleichzeitig rau und kräftig, er hat kleine, aber breite Hände, die Arme sind überzogen mit dicken Adern unter der feinen Haut. Auf den linken Unterarm hat er sich ein Porträt von Pippi Langstrumpf tätowieren lassen. „Pippi Langstrumpf ist so schön nonkonform“, sagt er.
Sascha ist in der Rolle eines „Mädchens“ in Berlin aufgewachsen, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Lehrer, das Mädchen hatte eine schöne Kindheit mit viel Zuneigung, Spielzeug und liebenden Großeltern. Es mochte hübsche Mädchenkleider und Judo, seinen Buben-Matrosenanzug und Tischtennis, eigentlich nicht ungewöhnlich, aber es fühlte sich immer ein wenig neben der Spur. Mit 13 hat es einem Freund einen Brief geschrieben. „Ich bin falsch“, stand darin. Was genau falsch war, konnte es damals nicht fassen, Sascha kann es auch heute kaum in Worte kleiden. Es gibt sowieso oft keine Worte für das, was er sagen möchte. „Es ist ein Gefühl.“ Wie gefangen sein und nicht ausbrechen können. „Ich konnte mich nie im Spiegel erkennen. Das war nie ich, was ich da gesehen habe. Ich dachte immer, ich könnte an mir vorbeigehen und würde nicht merken, dass ich das bin.“
„Ich war nie authentisch, das haben die anderen gemerkt“
Später besuchte das „Mädchen“ ein Gymnasium, dann ein Internat für Hochbegabte. Es war gut in der Schule. Aber es hatte kaum Freunde, weil die nie richtig Vertrauen fassten zu der jungen „Frau“, die mit ihrer Falschheit so beschäftigt war, dass Unbefangenheit unmöglich war. „Ich dachte immer, dass ich keine Freunde habe, liegt an meiner Hochbegabung, dass ich deshalb komisch sei“, sagt Sascha. „Aber im Rückblick war ich einfach nie authentisch, und das haben die anderen gemerkt.“ Mit jedem Schul- und Ortswechsel ließ es Bekanntschaften und Lebensentwürfe hinter sich, immer beschäftigt mit der eigenen Fehlerfindung und dem Gedanken: „Mit einem neuen Anfang wird es besser.“ Wurde es aber nicht.
Nach dem Abitur kaufte sich das „Mädchen“ den kleinen Pudelmischling, der nun zu seinen Füßen liegt, nannte ihn Loui, packte ein Zelt ein und ging mitsamt seinem Falschsein auf Wanderschaft, um das Richtige für sich zu finden. Es pilgerte den Jakobsweg entlang. Durch besetzte Häuser, über abgelegene Campingplätze, zu Besuch in kleinen Welten voller Menschen, vor denen es sich nicht rechtfertigen musste, wer, was und wie es war, es war ja sowieso gleich wieder weg.
Ein Erweckungserlebnis gab es nicht, keinen Moment der Erkenntnis, keine Schlüsselsituation. Aber als das „Mädchen“ von seiner Reise zurückkam, setzte es sich zu seiner Mutter an den Küchentisch und sagte: „Ich bin keine Frau.“ Die Mutter sagte: „Aber für uns ändert sich doch nichts. Du bleibst immer mein Kind, oder?“ Sie verschwand für ein paar Stunden schweigend in einem anderen Zimmer. Ab da nannte die Mutter ihn Sascha und sprach vom „Sohn“, wenn sie von ihm erzählte. Kurz darauf zog der Sohn schon wieder davon. Zum Studium ans andere Ende von Deutschland, allein, wie immer, aber diesmal mutiger und mit einem neuen Leben im Gepäck und dem Plan, den Körper dem Geist anzugleichen.
Es gibt zu wenig Begriffe, um die geschlechtliche Vielfalt zu beschreiben Wenn man Sascha besucht, kommt man mit der gewohnten Binarität in dieser Wohngemeinschaft an, in der Frauen leben und Männer. Und man geht wieder in die selbe Binarität zurück, die der Frauenumkleidekabinen, der Herrentoiletten, der Damenunterwäsche, der Männerdomänen. Zwischendurch sitzt man auf dem Sofa zwischen den Blumenkübeln, und diese Größen sind plötzlich völlig egal, Geschlecht verschwimmt. Weil es nur schwer vorstellbar ist, wie sich eine weibliche Hülle um einen männlichen Kern wohl anfühlt, und weil es noch schwerer ist, sich diesen zarten, aber haarigen Kerl auf der Couch als klassisches Mädchen oder derben Typen vorzustellen. Und weil es keine richtige Antwort mehr gibt auf die Frage, was eigentlich ein richtiger Mann ist und eine richtige Frau.
Im Englischen gibt es das Wort Sex, das sich auf Geschlechtsmerkmale bezieht, und das Wort Gender, das das gefühlte, soziale Geschlecht beschreibt. Im Deutschen gibt es offiziell nur das „biologische“ Geschlecht – Mann und Frau. Zur Beschreibung dieser beiden Geschlechter bemühen Ärzte Chromosomen und Hormonwerte, Sozialwissenschaftler geschlechtstypische Charaktereigenschaften. Männer sind härter, Frauen weinen, Männer verdienen Geld, Frauen pflegen die Kinder, Frauen sind XX, Männer XY.
Kurz nachdem er seinen Vornamen geändert hatte, saß Sascha mit seinem Opa zusammen. Der Opa war ein wenig überfordert von seinem neuen Enkel. Sascha fragte ihn: „Woran merkst du denn, dass du ein Mann bist?“ Und der Opa sagte: „An meinem Puller.“ Danach hat er eine Weile überlegt, aber mehr fiel ihm auch nicht ein. Dass er Frauen mag. Aber die mag Sascha auch. Sascha mag auch Männer. Und solche Menschen, die sich selbst zwischen diesen beiden Pole verorten. „Ich mag Charakter“, sagt Sascha, und es klingt überhaupt nicht abgedroschen.
Es gibt eine „große“ und eine „kleine“ Lösung für ein glückliches Leben. Seit eineinhalb Jahren streicht er sich die Arme und den Bauch mit Testosteron-Gel ein. Das wird er vermutlich sein Leben lang tun. Dadurch wächst sein Körper langsam in die Form hinein, die Sascha sich für sich wünscht. „Es macht unheimlich Spaß, zu fühlen und zu sehen, wie sich der Körper verändert.“ Die Schultern werden breiter, die Stimme tiefer. Fettpölsterchen verteilen sich von Po und Hüfte auf den Bauch. Und dann diese Haare an den Beinen! Sascha zupft schon wieder voller Begeisterung an einem Büschel.
Bis vor eineinhalb Jahren gab es eine „große“ und eine „kleine“ Lösung, um offiziell das körperlich angeborene in das andere Geschlecht zu ändern. Die kleine Lösung, eine Hormonbehandlung, führte zwar zur Änderung des Vornamens, nicht aber zur Änderung des Personenstands, also des Geschlechts. Da stand also „Thomas“ oder „Hans“, aber in den Dokumenten war gleichzeitig angegeben, es handle sich um eine Frau. Reisen war problematisch, eine Arbeitsstelle finden ebenso, und was kreuzt man in Formularen an, wenn man den Ausweis dazu vorlegen muss? Zudem schnappte der Vorname bis ins Jahr 2009 bei einer Heirat zurück in den alten Status, weil eine Ehe nur gegengeschlechtlich geschlossen werden kann, eine bestehende Ehe musste zur Änderung des Vornamens erst geschieden werden.
Mit der großen Lösung konnte der Vorname geändert werden, ebenfalls der Personenstand in Ausweisdokumenten. Dazu verlangte der Gesetzgeber eine operative Angleichung des „biologischen“ Geschlechts – eine Brustangleichung und dauerhafte Unfruchtbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat diese beiden Passagen des Transsexuellengesetzes erst im vergangenen Jahr gekippt – beides sei ein Verstoß gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Kinder, die zweigeschlechtlich geboren werden, werden noch heute von Eltern und Ärzten einem Geschlecht zugeordnet, und erst vor einigen Tagen stimmte der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestags in einer öffentlichen Anhörung im Familienausschuss dafür, Intersexualität nicht mehr als Krankheit anzusehen. All das zeigt, wie schwer es ist, die Grenze des Geschlechts zu überschreiten.
Man muss das eigene Leben in richtig und falsch zerteilen
Die große und die kleine Lösung gibt es nicht mehr. Mit denselben Voraussetzungen kann ein Mensch nun die Vornamensänderung oder die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags ändern lassen. Sascha tat das, einen Monat nachdem das Bundesverfassungsgericht die Unfruchtbarkeit als Notwendigkeit aufgehoben hatte. Das Prozedere: wer seinen Vornamen ändern lassen möchte, muss erst beweisen, dass er tatsächlich über die körperlichen Merkmale hinaus eine Frau ist oder ein Mann. Gynäkologen und Urologen begutachten die Person körperlich, als sage der sowieso falsche Körper etwas über das richtige Geschlecht aus. Psychologen begutachten sie seelisch, weil das Falschsein als Krankheit aufgefasst wird, als psychische Störung, hervorgerufen durch allerlei vermutete Dysfunktionen, die aber nicht in Zahlen und Untersuchungsergebnissen nachweisbar ist. Es muss bewiesen werden, dass die Person sich sicher ist, dass sich diese Einstellung nie wieder ändert, sie muss sich im Rückblick drei Jahre lang verfestigt haben und zwanghaft genug sein, damit sie behandelt werden muss. „Man muss seine Biografie scannen nach Stereotypen“, sagt Sascha, „damit sie dir glauben.“ Das eigene Leben in richtig und falsch zerteilen. Was hab ich als kleines „Mädchen“ gemacht, was eigentlich Jungs machen? Wo war ich anders? Also hat er erzählt, der Opa habe mit ihm immer Fußball gespielt. Oder dass er früher mal in einem Ferienlager behauptet hat, er heiße Silvio. Letztlich hängt die Entscheidung von zwei Gutachtern ab, die einem Amtsgericht empfehlen sollen, ob ein Mensch sich verändern darf oder nicht – mittels zentimeterdicker Akten, gefüllt mit intimen Erlebnissen, Gefühlen und Geheimnissen.
Als Sascha mit der Hormontherapie begann, erzählen seine Freunde, benahm er sich mehr als männlich. Saß breitbeinig auf dem Sofa, war laut, sehr präsent, mit völlig übersteigertem Machismo. Sascha lacht. „Wenn dich Leute als Mann wahrnehmen, erwarten sie, dass du dich wie ein Mann verhältst.“ Und gleichzeitig war da die Angst, irgendwann morgens aufzuwachen und zu merken: „Das Frausein war doch nicht der Grund für das Falschfühlen.“ Ab und zu erlebt er auch heute noch Situationen, in denen er unsicher ist. Dann bewegt er sich weiblich, weil das eben in ihm drinsteckt, die Stimme wird höher, und die Angst steigt, der neuen Geschlechtsrolle und den damit verbundenen Erwartungen doch nicht gewachsen zu sein.
Momentan befindet sich Sascha in einem androgynen Zwischenstadium. Manchmal zwinkert er Frauen zu, und sie zwinkern zurück, manchmal zwinkert er Männern zu, und die zwinkern auch zurück. Er kann in den Arm nehmen und Kraft geben, selbst in den Arm genommen werden und schutzbedürftig sein, wie ein Gentleman die Tür aufhalten, sich stark fühlen. Und mittlerweile ist er so fest in seiner neuen Rolle, dass er auch wieder ein wenig „Frau“ sein kann. Manchmal schminkt er sich, weil es schön aussieht. Manchmal trägt er Kleider und fühlt sich gut dabei. Weil er weiß, dass er seinem Ziel mit jedem Tag näherkommt: ein bärtiger, muskulöser Kerl zu werden. Zwar einer ohne Penis, aber wer braucht schon einen, wenn es Hilfsmittel gibt, mit denen Mann und Frau und alle die anderen Geschlechter dazwischen ihren Spaß haben können. An Saschas Tür hängt eine Postkarte, auf der steht: „An manchen Tagen möchte ich mich als Frau verwirklichen.“ Die hat er sich erst kürzlich dorthin geklebt. Sascha grinst sein breites, noch bartloses Grinsen. „Als ich sie festgeklebt habe, fand ich mich dabei wahnsinnig emanzipatorisch.“