: Zurück zur Schweizer Natur
JEAN-JACQUES ROUSSEAU Zum 300. Geburtstag des Schriftstellers, Philosophen, Naturforschers und Komponisten wurden seine Lebensschauplätze aufpoliert. Highlights sind Spaziergänge durch die Regionen um den Genfer, Neuenburger und Bieler See
■ Anreise: Am einfachsten erreichbar ist die „Schweizer Riviera“ am Genfer See ab Zürich mit einem Zug über Biel und Neuenburg, mit dem man nach Vevey und schließlich Genf gelangt.
■ Ausflugsziele: Die Petersinsel im Bieler See; das Dorf Môtiers samt Rousseau-Haus, Wasserfall und Schaumweinkellerei Mauler im Val de Travers. Sehenswert ist auch Neuenburg samt Altstadt und botanischem Garten. In Vevey der Marktplatz und das Restaurant Le Clef mit dem Rousseau-Tisch, das Geburtshaus der Mme de Warens und das historische Museum sowie die Seepromenade. Ein „Muss“ ist das bei Montreux gelegene Wasserschloss Chillon. Sehenswert ist auch die Genfer Altstadt mit dem Geburtshaus Rousseaus.
■ Unterkunft: Das schönste Hotel der Region ist das luxuriöse „Grand Hôtel du Lac“ in Vevey, eine günstigere Variante ist das „Hôtel Helvétie“ in Montreux, empfehlenswert ist auch das „Suisse Hotel Metropole“ in Genf, die ruhige und beschauliche Villa Lindenegg in Biel oder besonders das Klosterhotel auf der Petersinsel
■ Infos: Schweiz Tourismus, Frankfurt am Main, Tel. 0 08 00-10 02 00 29 (gratis), www.myswitzerland.com
VON TOBIAS SCHWARTZ
Genf stinkt nach Geld. Blickt man vom Fuße der Altstadt aus auf den Genfer See, schießt zur Rechten eine Wasserfontäne bis zu 140 Meter hoch in die Luft, der Jet d’eau. Links sieht man an der Uferpromenade elegante Häuserblocks. Genf, Stadt der Banken, multinationaler Unternehmen und Luxusuhrenhersteller. Im Grabe umdrehen würde sich Jean-Jacques Rousseau kaum. Er, der berühmteste Sohn der Stadt, der vehemente Kritiker von Privatbesitz, dessen Geburtstag sich am 28. Juni zum 300. Mal jährte und der sich stolz Citoyen de Genève nannte, Bürger des seit der Reformation republikanischen Genf.
Auch damals nämlich herrschte hier das Geld. Rousseaus Vater war selbst Uhrmacher. Das Schweizer Nationalhandwerk brachten französische Protestanten mit, zu denen auch die Vorfahren des späteren Geldverächters, radikalen Kulturkritikers und Wegbereiters der Französischen Revolution gehören.
Rousseaus Geburtshaus steht in der Grand Rue Nr. 40, mitten in der heimeligen Altstadt. Am Place du Bourg-de-Four blüht das Leben in Bars und Restaurants. Abends duftet es überall nach Käsefondue, serviert wird aber auch der im See gefischte Eglifisch, zu dem die süffigen regionalen Chasselas-Weine passen.
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Autor der Pädagogikbibel „Emile“ als Kind im Stadtkern herumtobte und sich beim Versteckspiel in den Nischen der über Jahrhunderte errichteten eklektischen Kathedrale verkroch. Darauf jedoch, dass es den unbändigen, wissbegierigen Jungen nicht lange in engen Stadtmauern halten konnte, weist eine kleine Ausstellung im Rousseau-Haus hin, wo heute Lesungen veranstaltet werden.
„Zurück zur Natur!“, lautet der legendäre Imperativ, der dem Verfasser des „Diskurs über die Ungleichheit“ gerne untergejubelt wird. Wahr ist, dass es den leidenschaftlichen Spaziergänger hinaustrieb, ins Freie, in die Natur. Das sind in erster Linie die rings um den Genfer See gelegenen urwüchsigen Bergketten und Täler, die im Briefroman „Julie oder Die neue Heloise“ frühromantische Seelenregungen spiegeln.
Das heute leicht per Zug erreichbare Ostufer des Genfer Sees ist Haupt-Setting des empfindsamen Bestsellers. Hier lebt Julie, die den bürgerlichen Saint-Preux nicht lieben darf. Und hier steht auf einer Felseninsel das Schloss Chillon, eine savoyische Wasserburg und mit 300.000 Besuchern pro Jahr das meistbesuchte historische Bauwerk der Schweiz. Auch Rousseau war da. Und Lord Byron, der – wie ganze Julie-Lesergenerationen zuvor – auf Rousseaus Spuren wandelte.
Tourismus, wie wir ihn kennen, ist auch eine Erfindung dieses Rousseauismus. „Der Anblick des Genfer Sees und seiner wunderbaren Ufer hatte für meine Augen stets einen besonderen Reiz“, schreibt Rousseau in seinen „Bekenntnissen“. Vor ihm machte man nicht Urlaub, um Natur zu genießen. Zum Schloss Chillon fährt man am besten mit dem Boot, vorbei an den privaten Schönheitskliniken des Touristenstädtchens Montreux, das für sein jährlich veranstaltetes Jazz-Festival bekannt ist.
Vladimir Nabokov bewohnte hier eine luxuriöse Hotelsuite. Rousseau, der Luxus moralisch verderblich fand, würde heute wohl einen Bogen darum machen. Weit weniger bekannt ist ein Örtchen von umso größerer Bedeutung: Vevey, einer der schönsten Flecken der Schweiz. So sieht es auch Rousseau: „In Vevey wohnte ich im ‚Schlüssel‘; und fasste für diese Stadt eine Liebe, die mich auf all meinen Reisen begleitete.“
Dieses idyllische kleine Nest, einst eine bedeutende Handelsstadt mit dem größten Marktplatz Europas und noch heute Hauptsitz eines der größten Schokoladeherstellers weltweit, ist die Heimat von Madame de Warens, der liebevoll „Maman“ genannten mütterlichen Geliebten Rousseaus. Dieser mondänen Dame ist eine launige Ausstellung im historischen Museum Veveys gewidmet, die unter anderem ausgefallene Kleider der Epoche zeigt.
Mme de Warens’ Geburtshaus, mittlerweile das Musikkonservatorium, liegt am Markplatz. Gleich nebenan befindet sich das erwähnte Restaurant La Clef („Schlüssel“), in dem man an demselben Tisch speisen kann, an dem Rousseau in den frühen 1730er Jahren aß und trank. Reservierung empfiehlt sich.
In Vevey wohnte und starb übrigens auch Charly Chaplin. Sein Anwesen wurde in ein Museum verwandelt. An den großen Stummfilmstar erinnert eine Skulptur unweit des prächtigen Grand Hotel du Lac, das unmittelbar dem „Felix Krull“ Thomas Manns entsprungen sein muss.
Doch zurück zur Natur: herrlich der Blick auf die steil in den Genfer See herabfallenden Alpen. Etwas weiter bergaufwärts Richtung Gruyères, Fribourg und Bern befinden sich – bequem mit einer Standseilbahn erreichbar – riesige, im Frühling weiß blühende Narzissenfelder, die von weitem wie Schnee aussehen und betörenden Duft verströmen. Spätestens hier beschleicht einen das Gefühl, Rousseau in voller Gänze zu verstehen.
Im ebenfalls mit einer Sonderausstellung zum Rousseau-Jubiläum aufbereiteten botanischen Garten von Neuchâtel, zu Deutsch: Neuenburg, findet man zwar keine Narzissen, dafür das blau blühende, von Rousseau liebevoll beschriebene Immergrün. Diese Pflanze steht für die „blaue Blume“ der Romantik Pate. Eineinhalb Bahnstunden von Vevey entfernt und im Nordosten liegend, ist das seinerzeit preußische Neuenburg eine spätere Station des Reisenden.
Nach der Publikation seiner religionskritischen, Freiheit heroisierenden und der Demokratie den Weg ebnenden Schriften „Emile“ und „Vom Gesellschaftsvertrag“ musste er 1762 aus Paris fliehen. Auf preußischem Boden stand er unter dem Schutz Friedrichs des Großen, der eine Schwäche für Aufklärer hatte.
Richtung Frankreich wandernd, gelangt man ins Val de Travers, die Heimat des Absinths. Das Dorf Môtiers bot Rousseau für drei Jahre Exil. Einen kleinen Spaziergang vom auch hier erhaltenen Rousseau-Haus entfernt liegt der berühmte Wasserfall, den der im Neuenburger Jura zur Botanik bekehrte Flüchtling bewunderte.
Die landschaftlichen Verhältnisse aber haben sich hier einmal ins Gegenteil verkehrt: Lag der Wasserfall während Rousseaus Aufenthalt durch starke Abholzung komplett frei, muss man ihn heute im dicht aufgeforsteten Wald erst suchen.
Vollends zurück zur Natur gefunden hat Rousseau auf der Petersinsel im Bieler See, wo im empfehlenswerten Klosterhotelrestaurant noch sein Zimmer samt Himmelbett zu besichtigen ist. Gerade mal fünf Wochen darf er die „wahrhaft glücklichen Stunden“ auf dem einsamen Eiland auskosten, bevor er abermals ausgewiesen wird.
Um die Idylle nachzuempfinden, sollte man die heute über einen Damm mit dem Festland verbundene Insel nicht am Wochenende besuchen, wenn sie von Ausflüglern überrannt wird. Rousseau fand hier „eine Ruhe, die kaum ein Geräusch durchbricht; er hört vielleicht dann und wann einmal einen Adler schreien, Singvögel zwitschern oder die Wildbäche tosen“, heißt es in den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“. In diesem letzten Werk lässt er sein Leben noch mal Revue passieren, bevor er 1778 in Paris stirbt.