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Archiv-Artikel

In der City ist es still geworden

„Die Türen waren zu, Asche bedeckte alles. Die Leute bluteten und waren ganz weiß“

von DOMINIC JOHNSON

Eigentlich hatte London damit gerechnet. Dass die britische Hauptstadt irgendwann Ziel von Terroristen sein würde, gilt seit Jahren als ausgemacht. Als dies schließlich eintraf und London zur Frontstadt im Krieg gegen den Terror wurde, breitete sich Stille über der Stadt aus. London befand sich im Kriegszustand – einen Tag, nachdem Zehntausende begeistert die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 an die laut Eigenwerbung dynamischste Metropole der Welt gefeiert hatten.

„Der Bahnhof Liverpool Street ist leer“, erzählte ein Anwohner eines der gestrigen Anschlagsorte am frühen Nachmittag der taz. „Aber die Straßen sind voll. Die Leute gehen zu Fuß nach Hause. Sie schweigen alle, sie laufen einfach durch den Regen. Es fahren keine Autos. Es ist, als sei der Abend ein paar Stunden zu früh eingebrochen.“

Eine andere Bewohnerin berichtete aus dem West End: „Es ist wie eine Geisterstadt. Es fahren keine Autos oder Busse. Die meisten Läden und Kneipen sind geschlossen. Man kann nur zu Fuß aus der Innenstadt heraus, und es regnet.“

Die Anschläge trafen London im morgendlichen Berufsverkehr da, wo es am verwundbarsten ist: im überfüllten U-Bahn-Netz, dort, wo die Pendler zu Tausenden aus den großen Bahnhöfen strömen. Als Erstes, um 8.49 Uhr, kam die Strecke zwischen dem Ostlondoner Bahnhof Liverpool Street und der U-Bahn-Station Aldgate East dran, im Herzen der Londoner City. Der nächste Anschlag um 9.33 Uhr traf die Bahn zwischen dem Westlondoner Bahnhof Paddington und der Station Edgware Road – eine Schlüsselroute für Londons West End, wo überdies die beiden Gleise nebeneinander laufen, nicht in separaten Tunneln, und daher zwei Züge getroffen wurden. Und das dritte Ziel war 7 Minuten später das kurze Stück zwischen dem Nordlondoner Bahnhof King’s Cross und der Station Russell Square, die ins Herz von Londons Touristengegend um das Britische Museum führt.

Als wäre das nicht genug, explodierte dann nur zehn Minuten später ein Bus in der Nähe des dritten U-Bahn-Anschlags, voll mit Passagieren, die eine Alternative zum zusammengebrochenen U-Bahn-Netz suchten. Der Doppeldeckerbus der Linie 30 wurde in Tavistock Place, um die Ecke von der Zentrale der britischen Ärztevereinigung wie mit einer Autobombe in die Luft gesprengt.

Unbestätigte Berichte über weitere Busexplosionen in der Nähe der Bahnhöfe Marylebone und South Kensington und verdächtigen Vorfällen in anderen Teilen der Stadt sorgten für Verwirrung. Der gesamte öffentliche Nahverkehr in der Londoner Innenstadt wurde eingestellt. Das U-Bahn-Netz stand komplett still. Vorortzüge auf dem Weg in die Stadt kehrten um. In einigen Teilen der Innenstadt fiel der Strom aus. Woran das alles lag, erfuhren betroffene Reisende zumeist nicht sofort. Die Mobilfunknetze brachen kurzzeitig unter dem Ansturm besorgter Anrufer zusammen.

Die Polizei riet allen Londonern, zu bleiben, wo sie sind. Viele machten sich aber einfach auf den Weg nach Hause. Anfängliche Panik in den betroffenen Gegenden flaute im Laufe des Tages ab. „Es ist furchtbar gewesen“, berichtete eine Augenzeugin gegenüber BBC. „Seit fünf Stunden nur Sirenen, Chaos überall, alle Bahnhöfe sind zu, alle Mobilfunknetze überlastet. Die Polizei hat die Lage im Griff, aber was soll sie machen. So langsam sickern die Nachrichten durch, und die Leute sind nicht mehr konfus, sondern verstehen, was los ist.“

Krankenhäuser sagten alle nicht unbedingt dringenden Termine ab und richteten sich auf einen Ansturm von Anschlagsopfern ein. Verletzte wurden mit Bussen ins nächste Krankenhaus gefahren. Bis gestern Nachmittag bestätigte die Polizei 33 Tote. Medien sprachen von 45 Toten, 150 Schwerverletzten und 1.000 Leichtverletzten, aber die Zahlen veränderten sich stündlich. An den Anschlagsorten nahmen Experten die Suche nach Sprengstoffresten auf.

Die meisten Opfer forderte offenbar die U-Bahn-Explosion nahe King’s Cross. „Wir waren keine Minute gefahren“, berichtete ein Fahrgast gegenüber BBC. „Plötzlich gab es einen riesigen Knall, der Zug wackelte. Es war sofort Rauch überall, es wurde heiß, und die Leute gerieten in Panik. Die Leute begannen zu schreien.“ 20 Minuten steckten die Menschen fest, bevor sie in Sicherheit gebracht werden konnten. Bei Edgware Road steckten noch gestern Nachmittag zwei Züge fest; wie viele Menschen sich darin befanden und in welchem Zustand, war nicht klar.

Mehrere Augenzeugenberichte, von Londoner Medien gesammelt, legten die Vermutung nahe, die Explosionen seien nicht in den Zügen erfolgt, sondern im Tunnel – aber diese Wahrnehmung kann sich einfach darauf bezogen haben, dass die Zeugen in einem anderen als in dem am schwersten betroffenen Wagen saßen. „Es gab ein Feuer außerhalb des Wagens“, berichtete eine aus dem Zug von Liverpool Street evakuierte Studentin. „Ein Wagen war aufgeschlitzt. Ich glaube, dass ich Leichen gesehen habe.“ Eine andere Frau aus dem Zug schilderte: „Es gab einen lauten Knall, und dann fiel überall Asche. Ich konnte nicht atmen. Wir versuchten, die Türen zu öffnen, aber die Türen waren zu, und die Asche bedeckte alles. Die Leute bluteten und waren ganz weiß.“

Ein Augenzeuge aus dem Zug sprach bereits gegenüber dem Fernsehsender „Sky News“ von Leichenteilen in dem explodierten Wagen, als die Behörden noch offiziell von der These einer Überlastung des Stromnetzes ausgingen – eine These, die spätestens durch die Busexplosion widerlegt wurde.

„Die Explosion schien im hinteren Teil des Busses stattzufinden“, sagte ein Passant, dort, wo der Bus in die Luft flog. „Das Dach flog zehn Meter in die Luft und schwebte dann auf den Boden zurück.“ Ein anderer erzählte: „Es regnete überall Glas.“ Die Wucht der Explosion hob Fahrgäste von ihren Sitzen und verstreute sie über die Straße. Vom vollgestopften Bus blieb nur verkohltes Metall übrig. „Wir haben mit einer großen Opferzahl zu tun“, sagte ein Sanitäter.

Die ganze Dimension der Ereignisse war auch am späten Nachmittag noch nicht klar. In ganz Großbritannien organisierten Kirchen aller Konfessionen gestern Abend Sondergebete. Der zwischen den zwei Anschlagsorten Tavistock Place und King’s Cross gelegene Versammlungsort „Friends Meeting House“, Zentrale der pazifistischen Quäker-Bewegung und Ort unzähliger Kongresse von Friedens- und Basisgruppen, wurde zu einem improvisierten Notaufnahmelager für verängstigte Passanten und bereitete sich darauf vor, Hunderten von ihnen auch über Nacht ein Obdach zu bieten.