: Jetzt will die Ukraine Berge bauen
GRÖSSENWAHN Auch wenn die Probleme bleiben: Es war ein schönes Fußballfest - allen Unkenrufen zum Trotz. Schon liebäugeln die Machthaber mit den Olympischen Winterspielen 2022
AUS LEMBERG JURI DURKOT
Vor der Fußballeuropameisterschaft stellte die ukrainische Wochenzeitung Komentari die provokative Frage: Gibt es ein Leben nach der EM? Die Fußballbegeisterten haben Lemberg, Donezk, Charkow – die ukrainischen Austragungsorte der EM – längst verlassen. Nur die Fanmeilen stehen noch da, ohne Fans. Als letzter Ort – wie es sich auch gehört – wird die Hauptstadt Kiew verwaisen, wo nach dem Finale die letzten EM-Kulissen abgebaut werden. Dann beginnt das Leben nach der EM. Die Realität kehrt zurück und wird das Land wieder schnell bestimmen.
Es ist ein schönes Fußballfest geworden. Mit vielen ausländischen Fans, Begegnungen, einer Mischung aus Begeisterung und Interesse für Fremdes und Unbekanntes. Wahrscheinlich gab es noch nie so viele Touristen in der Ukraine, auch wenn sie sich weniger für die Geschichte als für Bier und Fußball interessierten.
Aus einer EM, die gar nicht stattfinden wollte, ist eine Erfolgsgeschichte geworden. Sie ist in den Medien grenzenlos politisiert und in der Politik endlos medialisiert worden. Kein Zufall, denn schließlich ist der Fußball die politischste und medienwirksamste aller Sportarten.
Einige Klischees wurden widerlegt. Vielleicht die beste Demonstration dessen war der Aufmarsch englischer Fans in Donezk mit einem Sarg und dem Slogan „You’re wrong, Campbell“ – eine Anspielung auf die Worte des Exkapitäns der englischen Nationalmannschaft. Sol Campbell hatte dunkelhäutige englische Fans vor einer Reise in die Ukraine wegen „ausufernden Rassismus“ gewarnt und gesagt, dass sie im Sarg enden könne. Andere Klischees wurden neu geboren, wie der Verkaufserfolg von T-Shirts mit der Aufschrift „Now I fear nothing, I’ve been to Donetsk“ beweist.
Unbändiger Bierkonsum
Das billige ukrainische Bier besorgte den Rest. Englische Fans auf der Kiewer Hauptstraße Chrestschatik konnten ihr Glück vor dem Viertelfinale gegen Italien kaum fassen: Ein Bier für umgerechnet 1,40 Euro, und das auf der Fanmeile! Die Freude manifestierte sich in einem unbändigem Bierkonsum und dem freundlichen Liedchen „Nobody hates the Germans more than we do“ vor laufender Kamera.
Kurzum: Keine Ausschreitungen, kein Rassismus, keine Ultras …, nur überdimensionierte Hotelpreise und ein übergroßes Polizeiaufgebot auf den Straßen. Bei den meisten Streifen war auch eine Frau dabei. Sieht freundlicher aus. Vielleicht ließ aber auch Political Correctness grüßen. Nicht mal eine richtige Prügelei zwischen den Fans. Da waren selbst die Polen härter drauf. Allerdings kann man nur spekulieren, wie es gelaufen wäre, hätte Russland in Kiew gegen die Ukraine spielen müssen.
Selbst Uefa-Präsident Michel Platini ist voll des Lobes. „Ein fantastisches Turnier, eine einmalige Atmosphäre. Die ukrainischen Offiziellen sehen es ebenso. Sie schwärmen von der Basketball-EM 2015 und den Olympischen Winterspielen 2022.
Allerdings war die EM nur eine Inszenierung. Ein erfolgreiches Spektakel zwar, das aber die Probleme nicht lösen kann. Die Risse zwischen Ost und West sind zu tief, um durch die EM-Begeisterung überwunden werden zu können. Und der Traum von einem Zusammenwachsen fand mit dem Ausscheiden des Nationalteams sein logisches Ende.
Politisch wird die EM eher der heutigen Regierung in die Hände spielen, zumal die EU wieder einmal an einem Spagat zwischen politischem Boykott und unaufdringlichem Protest scheiterte. Einmal mehr vermochte sie nicht, eine gemeinsame Position zu formulieren.
Nun droht die Ukraine wieder aus den Nachrichtenspalten westlicher Medien zu verschwinden. Das betrifft auch Meldungen über einen dramatischen Niedergang der Meinungsfreiheit. Allein während der EM registrierte Reporter ohne Grenzen fünfzehn Fälle der Behinderung von Journalisten.
Das Land wird aber nicht nur von schönen Erinnerungen an den Fußball leben. Es bleiben auch notdürftig modernisierte Straßen, überdimensionierte Flughäfen, pannengeplagte koreanische Züge sowie der Wille, neue steuerfinanzierte Großprojekte zu realisieren. Wie die Olympischen Winterspiele. Insbesondere wenn man dafür einige Berge wird bauen müssen und dabei Mittel aus dem Haushalt abzweigen kann.