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Spione und Antifaschisten

Der Dokumentarfilm „Die Rote Kapelle“ von Carl-Ludwig Rettinger erzählt die Geschichte der antinationalsozialistischen Widerstandsgruppe und des unterschiedlichen Gedenkens in DDR und Bundesrepublik

Libertas und Harro Schulze-Boysen gehörten zum Berliner „Knäuel“ der Roten Kapelle Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Von Fabian Tietke

Vom Fenster seines Arbeitszimmers blickt der Historiker Hans Coppi auf die Topographie des Terrors. Wo heute ein Betonbau steht, war ab 1933 die Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). In der persönlichen Geschichte Hans Coppis war dies der Ort, an den seine Eltern verschleppt wurden, nachdem die Gestapo sie 1942 verhaftete. Beide Elternteile gehörten dem Freundeskreis an, der von den Nazis als Rote Kapelle verfolgt wurde. Regisseur Carl-Ludwig Rettinger hat sich der komplexen Geschichte des Widerstandsnetzwerks und seiner Rezeption in dem Dokumentarfilm „Die Rote Kapelle“ angenommen.

Kurz zuckt man als Zuschauer zusammen, als auf die Szene in Hans Coppis Arbeitszimmer eine Spielszene folgt, die einen deutschen Offizier zeigt, wie er Akten entwendet. Doch die Befürchtungen, die Re­en­act­ment­seuche habe erneut zugeschlagen, zerschlagen sich schnell. Die Szenen stammen aus der Defa-Prestigeproduktion „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ von 1971.

Die Konfrontation des Defa-Films mit dem siebenteiligen westdeutschen Fernsehfilm „Die Rote Kapelle“ von 1972 (der im Oktober auf DVD erscheinen wird) entwickelt sich zu einer fruchtbaren Grundstruktur des Films. Im Wechselspiel aus Filmausschnitten und Gesprächen mit Nachkommen des politisch-freundschaftlichen Netzwerks zeichnet Rettinger die Geschichte der Roten Kapelle nach. Erinnerungspolitische Leerstellen werden auf diese Weise sichtbar gemacht und teils umgehend gefüllt.

Das Netzwerk besteht historisch aus mehreren Knäueln, die erst allmählich zusammenfinden. Ein erstes Knäuel bildet sich in Brüssel um Leopold Trepper und Leon Großvogel, die sich aus dem Leben im palästinensischen Mandatsgebiet kennen, beide des Landes verwiesen wurden und nun in Europa ein Spionagenetzwerk für die Sowjetunion aufbauen. Das Berliner Knäuel bilden unter anderem Harro und Libertas Schulze-Boysen, Arvid und Mildred Harnack, Hans und Hilde Coppi. Die Berliner Gruppe war deutlich informeller aufgebaut als die übrigen. Die Gruppen in der Schweiz und Warschau tauchen in dem Film nicht auf.

Mit großer Präzision und dank des Materialreichtums auch äußerst anschaulich zeichnet Rettinger die Arbeit der Roten Kapelle nach, von den Anfängen bis zur wachsenden Bedeutung als Spionagenetzwerk mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem deutschen Überfall auf die Sow­jetunion.

Letzterer sollte für die Geschichte des Netzwerks besondere Bedeutung erlangen: Kurz vor dem deutschen Angriff warnte das Netzwerk den sowjetischen Botschafter in Vichy. Doch dieser ignorierte die Warnungen ebenso wie Stalin. Eine Episode, die nach dem Ende des Krieges dafür sorgen sollte, dass Leopold Trepper bis zum Tod Josef Stalins in der Lubjanka inhaftiert blieb. Später übersiedelte Trepper angesichts des grassierenden Antisemitismus in der Sowjetunion nach Polen über, von wo er Mitte der 1960er Jahre angesichts des ebenso grassierenden Antisemitismus nach Israel auswanderte.

In den beiden deutschen Staaten geriet die Erinnerung an den Kreis in die Mühlen des Kalten Kriegs. In Westdeutschland behaupteten ehemalige Mitarbeiter der NS-Sicherheitsbehörden im Naziauffangbecken BND, die Rote Kapelle sei primär ein Spionagenetzwerk gewesen und dieses bestünde weiter.

Kurz vor dem deutschen Angriff warnte das Netzwerk den sowjetischen Botschafter in Vichy

In der DDR wurde alles, was mit der Geheimdiensttätigkeit der Sow­jet­union zu tun hatte, zunächst mit Schweigen belegt und ab Ende der 1960er Jahre in die Gedenkkultur an den Widerstand eingereiht. Mit Blick auf die beiden deutschen Filme schreibt Rettinger im Regiestatement zu dem Film, diese „verbindet nicht allein die propagandistische Anlage während des Kalten Krieges, sondern vor allem auch, dass sie die unangenehmen Aspekte völlig aussparen: die Haft, die Folter, die zahlreichen brutalen Hinrichtungen. In beiden Teilen Deutschlands wollte man dies seinem Publikum auch drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch nicht zumuten. Noch lebten die Täter und unzähligen Parteigänger – im Westen wie im Osten.“

Rettingers „Die Rote Kapelle“ gelingt es, die Geschichte eines der größten Widerstandsnetzwerke anschaulich und lebendig zu erzählen. Etwas hakelig ist jedoch auch bei „Die Rote Kapelle“ die Verwendung des historischen Filmmaterials. So folgt auch Rettinger der unschönen Tradition, die Wochenschauaufnahmen des sogenannten Aprilboykotts 1933 als Illustration der Pogromnacht 1938 zu verwenden, ergänzt diese aber immerhin um die berühmten Aufnahmen des Amateurfilmers Gustav Wittler aus Bielefeld.

Deutlich mehr Geschmäckle hat, dass auch Rettinger nicht darauf verzichtet, für seinen Film Material aus dem geschichtsrevisionistischen Sammelsurium von Karl Höffke zu verwenden, der mindestens in der Vergangenheit offene Kontakte zur deutschen Rechten hatte. Auch bei diesem Film wandert öffentlich-rechtliches Geld in die Hände eines politisch fragwürdigen Filmsammlers. All dies ändert jedoch nichts daran, dass „Die Rote Kapelle“ ein überaus sehenswerter Film ist.

„Die Rote Kapelle“. Regie: Carl-Ludwig Rettinger. Deutschland 2020, 122 Min.

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