Osman Engin Die Coronachroniken: Der Corona-Unfall
Ich stehe ordnungsgemäß bei Rot an der Fußgängerampel und warte bis es Grün wird.
Der Rüpel-Lkw biegt direkt vor mir nach rechts und übersieht mich dabei völlig! „Halten Sie an! Halten Sie sofort an“, brülle ich dem Lkw hinterher. Alle Menschen im Umkreis von einem Kilometer hören mich – nur der Lkw-Fahrer nicht. Rufe sofort die Polizei an, damit sie schnell eine Großfahndung einleiten und sämtliche Straßen in der Umgebung sperren können.
Ein älterer Passant, der den Tathergang genau gesehen hat, rennt hinter dem Lkw her, um sein Kennzeichen zu notieren. Ein jüngerer Passant holt Papier und Stift raus und zeichnet ein detailgenaues Phantombild des flüchtigen Fahrers. Die Hilfsbereitschaft der Menschen rührt mich zusätzlich zu Tränen.
„Der Kerl muss stark alkoholisiert sein! Das war beinahe fahrlässige Tötung“, schimpfe ich mitten auf der Kreuzung.
„Er hat mich genauso erwischt. Das war pure Absicht! Das war vorsätzlicher Mord. Er kann sich nicht mit ‚toter Winkel‘ und so’n Zeug rausreden. Der gehört in den Knast“, überschlägt sich die Stimme des ältlichen Passanten, der wie ein junger Hüpfer hinter dem Lkw hergerannt war.
Während wir auf die Polizei warten, helfen wir dem talentierten Phantombildzeichner, das Gesicht des geflüchteten Mörders aufs Papier zu bringen. Selbstverständlich mit drei Meter Corona-Sicherheitsabstand voneinander.
„Die Nase ist viel größer, wie eine dicke, rote Knolle“, rufe ich. „Und die mickrigen Augen waren viel dichter beieinander. Eine typische Mörder-Visage eben!“
Zu unser aller Freude rast in dem Moment ein Polizeiauto mit lauter Sirene und Blaulicht in unsere Richtung und kommt neben uns zum Stehen. Zwei Beamte zerren einen dicklichen Mann mit zerzausten, braunen Haaren auf die Straße.
„Ich fass es nicht! Der Kerl sieht 100 Pro so aus, wie ich ihn gezeichnet habe“, freut sich unser Künstler.
„Mensch, warum wollten Sie mich umbringen? Wie viel Flaschen Bier haben Sie denn getrunken?“, brülle ich den geschnappten Verbrecher böse an.
„Er ist nicht alkoholisiert“, meint einer der Polizisten.
„Ich wusste es! Er hat’s mit voller Absicht getan“, schimpft der ältere Passant.
„Wieso? Was habe ich denn verbrochen?“, tut der Kerl ahnungslos.
„Hat der Lkw Ihnen Ihre Füße plattgefahren? Was fehlt Ihnen überhaupt?“, fragt mich der Polizist.
„Wenn er doch bloß meine Füße überfahren hätte“, schimpfe ich wütend. „Er hat mir vom Fahrerfenster direkt ins Gesicht gehustet. Ohne Mundschutz! Nicht mal einen Meter Abstand!“
„Und mich nicht mal zwei Meter“, brüllt der ältere Passant immer noch völlig außer sich.
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