brief des tages
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Kein „armer Irrer“

„Eine Frage der Verantwortung“, taz vom 3. 8. 21

Dr. Manfred Lütz macht ein beliebtes Motiv der Psychiatrie auf, das man getrost als naive, kollektive Abwehr bezeichnen darf. Er behauptet, dass ein Mensch mit einer Psychose natürlich nicht dem Inhalt seiner ­Psychose glaubt beziehungsweise umgekehrt seine Psychose nichts mit seiner Biografie und seiner Sozialisierung zu tun hat. Jeder, der mit Menschen mit Psychosen arbeitet, weiß: Das Gegenteil ist der Fall. Die Psychose und vielmehr der Inhalt des Wahns (wobei Wahn nicht gleich Psychose ist) liegen in der jeweiligen Biografie, Erlerntem und Erlebtem begründet. Dr. Lütz vermittelt das alte Bild, ein Wahn sei eben „verrückt“, nicht mehr. Ein frommer Wunsch, macht es den Täter doch einfach zum „armen Irren“ und nimmt uns, den Beeinflussern und Aufstachlern, die Verantwortung. Die Psychose entspringt jedoch leider erlebter Realität. Und somit auch dem Rechtsradikalismus. Der Täter von Hanau ist vielleicht an einer Psychose erkrankt – seine Tat ist aber weder Zufall noch einfach so und ohne jeden Hintergrund passiert, sondern Ausdruck des erstarkten (Rechts-)Radikalismus unserer Tage. Christian Kreß, Dresden