: Wem die Mittagsstunde schlägt
Ein Abend übers Sterben am Thalia-Theater: Anna-Sophie Mahler inszeniert Dörte Hansens „Mittagsstunde“ unprätentiös realistisch als Abgesang auf jedes Dorf-Idyll. Den fiktiven Geestflecken Brinkebüll entkleidet sie dabei allen Charmes und aller Unschuld
Von Jens Fischer
Der Horizont so weit, davor nichts als plane, landwirtschaftliche Nutzfläche und ein paar Reetdach-Gehöfte. Wohnhaft sind dort einige sture, herzlich wortkarge „Moin“-Nuschler. Ein friesisches Dorfporträt mit solchen ironisierten Klischees und gegen all die Idyllisierungen aufzuschreiben, ist Dörte Hansen mit den Romanen „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ nun schon zweimal sprachelegant und mit psychologischem Feinsinn gelungen.
Aus der Innenperspektive: Die Autorin ist in den 1960er-Jahren nahe Husum in der 400-Seelen-Gemeinde Högel aufgewachsen. Sie schreibt norddeutsche Heimatliteratur im kritischen Sinne. Prima Vorlagen und Herausforderungen sind das beispielsweise fürs Hamburger Ohnsorg-Theater, daraus einen Publikumshit zu dramatisieren.
Aber die Rechte für die „Mittagsstunde“ gingen ans weniger volkstümliche Thalia-Theater. Regisseurin Anna-Sophie Mahler konzentrierte den 320-Seiten-Roman auf 38 Seiten, ließ Hansen das Platt- ins Hochdeutsche übersetzen und spitzt den Ansatz der Autorin noch mal zu. Die schrieb ihren liebevollen Abgesang ans Leben in der Provinz als eine Geschichte des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit – darin dezent nostalgisch eingebettet ist Kritik an Herkunftsfolklore, an den beschränkten Möglichkeiten, der sozialen Kontrolle und Engstirnigkeit auf dem Land.
Mahler übernimmt das und lässt letztlich überhaupt kein charmantes Argument mehr für ein Leben im bäuerlichen Kontext aufschimmern. Sie nimmt sich fast drei Stunden Zeit für das Retro-Lebensgefühl der Mittagsstunde, dieser Siesta-Kunst des ländlichen Nordens, um das fiktive Geestdorf Brinkebüll als Ort verbohrter Einstellungen zu zeigen. Thematisiert werden Ausgrenzungen, Alkoholmissbrauch und Gewalt. Man hänge zwar an diesem rohen, abgewetzten Altmoränenland, „wie man an einem abgeliebten Stofftier hängt, dem schon ein Auge fehlt, und das am Bauch kein Fell mehr hat“, heißt es auf der Bühne, aber „man kann gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es bringt nichts. Es geht hier gar nicht um das bisschen Mensch.“
Deutlich macht die Aufführung, dass all die kindlichen Erfahrungen der Dorfbewohner nicht einfach abzuschütteln, sondern lebenslang prägend sind. Selbst für diejenigen, die früh flüchteten wie Ingwer Feddersen, der es immerhin bis Kiel geschafft hat. Nun ist er Doktor der Frühgeschichte, fühlt sich selbst aber verloren zwischen Vergangenheit und Zukunft: „Manchmal träume ich in letzter Zeit vom Fallen, und ich falle dann immer durch das Weltall. Major Feddersen, nur ohne Raumschiff. Ich falle und falle und falle durch dieses unvorstellbar große Nichts. Es ist der schlimmste Traum von allen.“
Ingwer erzählt vom Scheitern, sich ohne Akzeptanz der Herkunft eine stabile Persönlichkeit zu basteln. Überzeugend, mit welch verzweifeltem Stoizismus Thomas Niehaus diesen Erzähler und Moderator des Abends gibt und mit lakonischem Humor die Leiden als alternden Ex-Brinkebüller ausbreitet. Schließlich wurde er vom ersten Babyschrei im Elternhaus mit Marschmusik und Schlagern beschallt. Die bekam er nie mehr aus dem Ohrwurmgedächtnis.
Launig spielt Ingwer die ollen Hits an, serviert dazu Anekdoten aus dem Alltag seiner Jugend und skizziert die wenigen in der Bühnenfassung noch vorhandenen Charaktere. Zu sich selbst findet Ingwer nur im Rückzug auf die herzzerreißend balladesken Folk-Schrat-Songs eines Neil Young. Unterstützt von einer Country-Band konfrontiert er immer wieder die verlogene Fröhlichkeit der von ihm höhnisch intonierten Schlager mit der innigen, fragil rumpeligen Poesie und existenziellen Traurigkeit des Young’schen Œuvres, beseelt von waidwunder Melancholie weitab eines ranzigen Heimatgefühls.
Dem widerspricht auch das Bühnenbild. Im Zentrum prunkt zwar anfangs noch ein pittoresker Heuwagen als Erinnerungsbeschleuniger für Ingwer, bald fallen aber vor allem Stümpfe abgehackter Bäume ins Auge. Mehrmals werden auch Planquadrate auf das Bühnengeschehen projiziert. Vermessungsingenieure schleichen dann durchs Bild als Wegbereiter der agrarwirtschaftlichen Umstrukturierung – und damit auch der zunehmenden Umweltzerstörung und des Artenschwunds.
Der einst diversen Kulturlandschaft, Symbiose aus geordneten und wilden Flächen, in denen die Natur sich ausbreitete, machte das 1953 erlassene Gesetz zur Flurbereinigung den Garaus. Hecken, Bäume, Findlinge, Wasserläufe, Seen, Grünstreifen wurden entfernt, Straßen verbreitert und geteert. Das ist nötig, damit riesige Agrarmaschinen zum Einsatz kommen und kleine Felder zu endlosen Monokulturarealen zusammengelegt werden können. „Das ganze Enge, Schiefe und Beschränkte, das Verwinkelte und Zugewachsene, das Umständliche. In ihren Flurkarten und Plänen gibt es dieses alte Dorf nicht mehr, sie haben es auf dem Papier schon ausradiert, berichtigt und begradigt“, heißt es über die Ingenieure.
Kein Storch kehrte jemals zurück, bedauert Faktotum Marret (Cathérine Seifert). Sie sieht in den Boten der Moderne zuerst die schönen Fremden, schnell aber werden sie als „Grobiane“ kenntlich, gefolgt vom leitmotivischen Aufschrei: „Die Welt geht unter, ich sehe die Zeichen überall.“ Das labile Mädchen wird dann auch so konkret wie symbolisch von einem der Eindringlinge geschwängert – und sitzen gelassen.
Marret schreit, greint, lacht wie verrückt, schlägt sich auf die Wölbung ihres Bauches und versucht Abtreibungstorturen. Aber ihr Sohn wird geboren, nur großziehen kann sie ihn nicht. Ihre Eltern, seine Großeltern übernehmen das: Ella und Sönke. Der aber verachtet bald den angenommenen Sohn, weil er aufs Gymnasium will. Weil er Zivil- statt Wehrdienst macht. Weil er Sönkes marode Dorfkneipe nicht übernimmt, sondern an die Uni geht. Als weltkriegstraumatisierten Schweiger spielt Bernd Grawert diesen Sönke. Seinem Sohn nah ist er nur, wenn sich beide im Duett die Kümmerlings in den Hals kippen.
Das Stück springt ständig zwischen der Jugend- und Jetztzeit Ingwers, in der er für ein Sabbatjahr nach Brinkebüll zurückgekehrt ist, um seine inzwischen demente Mutter und den grummelgreisen Vater zu pflegen. „Ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Es kann nicht mehr lange dauern. Die beiden Alten sind auf den letzten Metern. Ich will es jetzt gut zu Ende bringen. Ich, Ingwer Feddersen, Studierer, Büchermilbe, würde ausnahmsweise etwas Nützliches, Normales tun.“
In den Jahrzehnte vor und zurück springenden Szenenwechseln brilliert besonders Ella-Darstellerin Christiane von Poelnitz, zauberwundersam wie sie in einer einzigen Körperdrehung um 40 Jahre altert oder sich entsprechend verjüngt. Während Björn Meyer als Ingwer-Freund Heiko vor den Schlägen seines Vaters in die Country-Musik flüchtet und nun in massiger Gestalt einer Line-Dance-Gruppe vortänzelt.
Das könnte alles sentimental, tragisch oder kitschig daherkommen. Mahler aber inszeniert erfrischend unprätentiös. Ein sanfter Triumph, wie sie ästhetisch konventionell ein mit dem Realismus spielendes Theater reanimiert. Das ist politisch zwar nicht so ambitioniert wie etwa die „Unterleuten“-Dramatisierungen des ähnlich gelagerten Juli-Zeh-Romans, macht aber inniges Schauspiel möglich, das als bewegender, gedankenvoller Abend übers Sterben funktioniert – und über die Wehmut, aufgrund all der Ich-Identitäts-Kriselei noch gar nicht gelebt zu haben.
„Mittagsstunde“: heute, 17. 9., 20 Uhr (ggf. Restkarten); Sa, 18. 9., 15 Uhr; weitere Termine im Oktober
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