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Archiv-Artikel

Lehrstück

Oberflächlich betrachtet, lässt sich das, was als Mappus/Notheis-Affäre durch die Medienfilter träufelt und von Journalisten als Marionettentheater oder „Mappus-Show“ aufgeschäumt wird, durchaus als Lachnummer verkaufen. Es darauf zu reduzieren ist jedoch eine unverantwortliche Verharmlosung

von Hans See

Selbstverständlich freut sich der kleinbürgerliche Spießer in uns, wenn Spitzenpolitiker und Topmanager überführt werden. Wenn offenkundig wird, dass sie mindestens so doof sind wie diejenigen, auf die diese Herrschaften herabzusehen und abfällige Bemerkungen zu machen pflegen. Aber enthalten die nun überall genüsslich zitierten E-Mails zwischen Stefan Mappus und seinem Freund, dem Investmentbanker Dirk Notheis, irgendetwas, was interessierte Beobachter der auf Chefsesseln thronenden Machtinhaber in Politik und Wirtschaft nicht längst wüssten? Selbst die Stammtische wissen es: „Die da oben verarschen uns doch nur.“

Ich empfehle, auch diesen Fall – wie die vielen ähnlichen, die die Medien ihrem Publikum nahezu täglich, sozusagen als Krimiserie darbieten – sehr ernst zu nehmen. Es ist dringend erforderlich, die tieferen, die macht- und herrschaftsstrategischen Gründe und Hintergründe dieses Skandals zu recherchieren und zu analysieren. Dass bei diesem Skandal ein CDU-Ministerpräsident und der Chef der deutschen und österreichischen Abteilungen der Londoner Morgan Stanley Bank als die Bösewichter aufflogen, erinnert an eine alte Theorie: an die im Ansatz richtige, aber durch den verschärften Dogmatismus vieler ihrer Anhänger und Gegner in Verruf geratene Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap).

Der Fall Mappus erinnert an die Stamokap-Theorie

Die Gegner der Stamokap-Theorie verhängten damals mittels Radikalenerlass Berufsverbote. Es gab, in der Folge der Brandt'schen Politik, die er später für falsch erklärte, rund 11.000 offizielle Verfahren und tausende Opfer. Auch und besonders im „Ländle“, in dem der „Altnazi“ Kurt Georg Kiesinger 1958 CDU-Ministerpräsident wurde. Auf Kiesinger folgte Hans Filbinger, der von Rolf Hochhuth als „fürchterlicher Jurist“ gebrandmarkt wurde und 1978 zurücktreten musste. Unter Kiesinger und Filbinger wurde das traditionell liberale Baden-Württemberg – wie Bernt Engelmann seinerzeit bemerkte – ein braun-schwarzes, von wirtschaftshörigen Politikern beherrschtes Sumpfgebiet.

Und man muss es nicht als Zufall betrachten, dass sowohl die gewalttätige RAF als auch die gewaltfreie Antiatombewegung (Wyhl) ihre ersten Wurzeln in Baden-Württemberg schlugen. Dass Stefan Mappus und Dirk Notheis in diesem nachwirkenden Milieu sozialisiert wurden und ihre politische Karriere begannen, erklärt sicher nicht alles. Es gehört aber dazu, wie der gleichzeitige Ausbruch der digitalen Revolution, wenn man verstehen will, unter welchen Rahmenbedingungen sich der personelle Übergang von den alten nationalistischen Seilschaften zu den modernen internationalistischen Netzwerkern vollzogen hat. In diesem Prozess entstand ein Europa der Konzerne, das sich der Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung verschrieben und eine Entdemokratisierung zur Folge hatte, die selbst vielen Konservativen zu weit ging.

Erinnern wir uns, dass 2008 die CSU ihre seit 50 Jahren bestehende absolute Mehrheit in Bayern verloren hat. Ein Verlust, der auch in der CDU-Hochburg Baden-Württemberg einen Schock auslöste. Die baden-württembergische und die Bundes-CDU trauten Ministerpräsident Günther Oettinger nicht mehr zu, die Landtagswahlen 2011 zu gewinnen, und so wurde er als „Energiekommissar“(!) nach Brüssel befördert. Seinem ehrgeizigen Nachfolger Mappus fehlte jedoch das politische Gespür, nicht zuletzt dafür, den wachsenden Widerstand gegen Stuttgart 21 im Sinne der CDU-Führung in die richtigen rechten Bahnen zu lenken. Gegen Ende 2010 zeichnete sich ab, dass seine Christdemokraten im März 2011 ebenfalls starke Verluste erleiden würden. Daher lag es nahe, über einen Schachzug nachzudenken, der so viel Aufsehen erregen musste, dass unter anderem von Stuttgart 21 abgelenkt und sein Wahlsieg nicht gefährdet werden konnte.

Erinnern wir uns weiter, dass Baden-Württemberg eine der wirtschaftsstärksten Regionen der Europäischen Union ist. Also viel Energie braucht und verbraucht und mit dem Energieversorger EnBW über den drittgrößten Energiekonzern der Bundesrepublik verfügt. Als die Regierung Schröder/Fischer im Jahr 2000 den Atomkonsens über den Ausstieg mit den Kernkraftwerken schloss, geschah dies gegen den Widerstand der gesamten CDU. Die Parteiführung versprach deshalb den Ausstieg aus dem Ausstieg, falls sie die dazu nötige Mehrheit für sich gewinnen würde. Damals, noch grundüberzeugt auf Privatisierungskurs, verkaufte Baden-Württemberg für knapp 2,4 Milliarden Euro seinen 25,1-prozentigen EnBW-Anteil an den französischen Atomkonzern EDF.

Merkel verlängert die Laufzeit, und Mappus hat eine Idee

Im Oktober 2010 hatte die schwarz-gelbe Koalition unter Kanzlerin Merkel die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke – wie versprochen – noch einmal verlängert. Kurz darauf muss Mappus auf die Idee gekommen sein, das inzwischen kräftig angeschwollene Aktienpaket von der EDF zurückzukaufen. Damit glaubte er für den Landtagswahlkampf 2011 das Thema gefunden zu haben, mit dem er wieder punkten konnte. Anfang Dezember, am Nikolaustag 2010, legte er offen, dass er in einem Blitzverfahren den Rückkauf der EnBW-Anteile durch die Landesregierung abgewickelt habe. Der ausgehandelte Kaufpreis betrug 4,7 Milliarden Euro.

Dieser Startschuss für den Wahlkampf 2011 wurde zum Rohrkrepierer. Der alsbald eingeschaltete Rechnungshof stieß auf rechtliche Unregelmäßigkeiten, das Parlament, die Opposition und viele CDU-Abgeordnete fühlten sich ausgetrickst, der Staatsgerichtshof stellte sogar Verfassungsbruch fest. Und der Verdacht breitete sich aus, dass ein viel zu hoher Preis bezahlt wurde. Mit anderen Worten: der mit seinem Parteifreund Notheis ausgeheckte Deal, so glatt, schnell, effektiv und „fachmännisch“ er durch die Beratung, Anweisungen und Hilfestellungen von Notheis und dessen Netzwerk verlief, führte nicht zum Wahlerfolg, sondern brachte die CDU, Mappus, die Morgan Stanley Bank und Notheis schon vor der Wahl in peinliche Erklärungsnöte.

Klar war dabei auch: Ein Auftrag zur Beratung in Sachen Aktienrückkauf wurde nicht ausgeschrieben, weil der Zwillingsbruder des Chefs der EDF ein befreundeter Kollege von Notheis war, sprich der Chef der französischen Niederlassung der Morgan Stanley. Das sind diese internationalisierten Netzwerker, die den Verschmelzungsprozess zwischen transnationalem Konzernkapital und Spitzenpolitikern betreiben. Und das sind diese Politiker, die auf das Europa der demokratiefreien Konzerne fixiert und ein Kernproblem der gegenwärtigen Demokratiekrise sind.

Nicht Marionette des Bankers, sondern aktiver Mittäter

Mappus gab sich überzeugt, dass der 4,7 Milliarden Euro teure Rückkauf durch eine „Baden-Württemberg-Anleihe“ aufgebracht werden könne. Die Zinsen würden durch die Dividenden der EnBW beglichen werden. Er versprach weiter, dass der Kauf nicht „zulasten des Steuerzahlers gehen“ würde und der ausgehandelte Preis „ausgesprochen fair“ sei. Dass der Aktienkurs der EnBW-Papiere nach vorübergehender Aussetzung um 18 Prozent auf 41,39 Euro in die Höhe schoss, schien den Beweis zu liefern, den Mappus seinen Wählern liefern wollte: Ich kann auch Wirtschaft. Doch inzwischen – nach der Energiewende anlässlich der Fukushima-Katastrophe, die ihrerseits ein Lehrstück in krimineller Ökonomie ist – scheint auch die EnBW in ein nur schwer zu überwindendes Tief geraten zu sein. Dass Mappus und sein Bankerfreund diesen Niedergang mit verursacht haben, steht außer Frage.

Verfassungsbruch, Gesetzesbruch, Vertrauensbruch, autokratische Entscheidungen, Umgehung der lokalen, regionalen und nationalen Parlamente, nahezu unbegrenzte Kommissarsherrschaft in der EU, Abhängigkeiten von den USA, der Nato, den Bretton-Woods-Institutionen (IWF und Weltbank) – der politisch-ökonomische Kontext zeigt, dass Mappus keine Marionette seines Freundes Notheis, des leitenden Bankers, sondern aktiver Mittäter war. Und mit Blick auf andere Bundesländer, auf Deutschland und die Europäische Union, erkennt selbst der politische Laie, dass der Fall Mappus, der bei genauerer Betrachtung ein Fall EnBW und Morgan Stanley ist, als exemplarischer Vorgang betrachtet werden kann. Er wiederholt sich in vielen Variationen weltweit, nicht nur in unterentwickelten Staaten mit korrupten Diktaturen, auch in den kapitalistischen Demokratien, täglich, oft in mehreren Konzernen und Ländern gleichzeitig.

Mappus, Anhänger der neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik, wollte mit dem Aktienrückkauf die EnBW nicht verstaatlichen, sondern aus der Bevormundung des französischen Staatskonzerns befreien, das Aktienpaket auch nicht in ausländische, schon gar nicht in russische Hände fallen lassen. Er wollte die Aktien gewinnbringend an die Börse bringen und möglichst breit streuen. Was die grün-rote Regierung Kretschmann damit anfangen wird, bleibt abzuwarten. Zunächst fordert sie rund zwei Milliarden von der EDF zurück, aber wenn es zu keinem Vergleich kommt, werden Jahre vergehen, bis die juristische Aufarbeitung dieses Falles abgeschlossen ist.

Transparenz ist kein Ersatz für Demokratisierung

Es bleibt zu hoffen, dass in der Zwischenzeit die Kapitalismuskritiker, welchem Demokratiemodell sie sich auch verpflichtet wissen, wieder lernen, dass das Kernproblem der kriminellen Ökonomie in der unkontrollierten Verschmelzung von Staat und transnationalen Konzernen besteht, dass die Forderung nach mehr Transparenz der – ja notwendigen – Zusammenarbeit zwischen Staatsmännern und Topmanagern gut, aber kein Ersatz für die überfällige Demokratisierung der Konzernmacht ist.

Als realistischen Einstieg sollten die Kritiker für eine kriminalpräventive Mitbestimmung in transnationalen Konzernen kämpfen. Dieser Schritt in die Wirtschaftsdemokratie würde zumindest erst einmal verhindern helfen, dass derart gigantische Geschäftstransaktionen an geltenden Gesetzen, Verfassungen und institutionalisierten Kontrollen vorbei zulasten derer, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, in Gang gesetzt werden können. Wer könnte bestreiten, dass der Kapitalismus auch ohne Wirtschaftskriminelle eine Gefahr für Mensch und Natur, sozialstaatliche Demokratie und eine humanistische Kultur ist? Wer jedoch glaubt, die Abschaffung des Kapitalismus würde genügen, um Wirtschaftskriminalität auszuschalten, sollte sich endlich die Mühe machen, das Problem der kriminellen Ökonomie im Kapitalismus wie auch die Ursachen für den ökonomischen Zusammenbruch des Realsozialismus genau zu studieren.

Prof. Dr. Hans See ist Politikwissenschaftler und Wirtschaftskriminologe, Gründer und langjähriger Vorsitzender der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control e.V, Gründer und Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift „BIG Business Crime“ sowie Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher zu demokratietheoretischen, wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Themen.