berliner szenen
: Retten ist das neue Kaufen

In der Wilmersdorfer Straße sind alle Cafésitzplätze und Bänke besetzt. Es ist heiß, jeder Meter Asphalt ein Kampf. Ich kaufe etwas zu trinken und setze mich auf einen Poller. Das letzte Mal war ich hier während des Lockdown light. Die Trostlosigkeit, die die Einkaufsstraße durch die vielen Ketten schon seit Langem ausstrahlte, hatte eine Klimax der Kälte erreicht. Alle Schotten waren dicht, die Menschen bewegten sich nur von A nach B.

Nun ist die Straße kaum wiederzuerkennen. Ein Mann mit einem Kittel mit Aufdruck „Freakzirkus“ hat in der Straßenmitte ein mit Seifenlauge gefülltes Becken aufgestellt, in das er ein an zwei langen Stöcken befestigtes grobmaschiges, kopfkissengroßes Netz taucht, aus dem dann mithilfe des Windes große Seifenblasen herausschweben. Ein paar Kinder rennen den Seifenblasen hinterher, ein Baby jauchzt.

Auch Erwachsene ohne Kinder bleiben stehen, betrachten die Blasen und machen Selfies im Seifenblasenmeer. Ein Mann fragt die Umstehenden, ob sie Teil eines Fotoprojekts mit dem Titel „Gesichter von Berlin“ werden wollen.

So viel ist in Coronazeiten über eine veränderte Nutzung der Fußgängerzonen, eine Wiederbelebung des öffentlichen Raums nachgedacht worden. Ein Freakzirkus und ein Fotoprojekt, denke ich beim Betrachten der glücklichen Gesichter um mich herum, sind ein Anfang. Man müsste viel mehr Kultur auf die Straße holen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen.

In dem Moment landet eine der Seifenblasen auf meiner Hand. Gedankenverloren betrachte ich sie eine Weile. Als sie platzt, fällt mein Blick auf ein Geschäft mit noch genießbaren, abgelaufenen Lebensmitteln, auf dessen Schaufenster „Retten ist das neue Kaufen“ steht. Und: „Charlottenburg war noch nie so cool.“

Eva-Lena Lörzer