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Archiv-Artikel

98 Prozent ist Ausschuss

„Kalk Seeds“ ist die erste Werkschau nach sieben Jahren Karaoke Kalk. Labelchef Thorsten Lütz über Karneval in Köln, Erfolg in Japan und Kreativität in Berlin

INTERVIEW THOMAS WINKLER

taz: Sie sind mit Ihrem Label vor anderthalb Jahren von Köln nach Berlin gezogen. Neigt der Kölner qua Geburt zum Karnevalismus?

Thorsten Lütz: Nee. Und ich erst recht nicht.

Ich frage, weil man Sie auf Ihrer Website in zehn Verkleidungen sieht, vom „Label President Gero von Westphalen“ bis zur „Accountant Elke Kuntz“.

Ich sage seltsamerweise tatsächlich immer „wir“, wenn ich von Karaoke Kalk rede, obwohl ich das Label eigentlich allein mache. Es hat einfach Spaß gemacht, in Rollen zu schlüpfen und dem Ernst, der sonst mit unserer Musik verbunden wird, einen kleinen Scherz entgegenzusetzen.

Welcher der zehn Rollen-Jobs ist Ihnen der liebste?

Ich glaube, der Lagerverwalter Anton Lolek. Aber das Beste an dem realen Job, ein Label zu betreiben, ist natürlich, die Musik zu hören, die man Woche für Woche aus aller Welt geschickt bekommt.

Wie viel kommt da denn an?

In Hochzeiten bestimmt 15 CDs pro Woche – die meisten übrigens aus Japan. Leider ist da weniger Gutes dabei, als man so vermuten würde: 98 Prozent sind Ausschuss. In den letzten beiden Jahren hat sich die Situation auch sehr verändert: Man muss sich genau überlegen, was man veröffentlichen kann.

Nach welchen Kriterien filtert man die zwei Prozent Nicht-Ausschuss heraus?

Ich erdreiste mich nicht, Musik wie in einer Plattenkritik zu rezensieren. Meine Kriterien kommen aus dem Bauch: Löst es etwas in mir aus, wenn ich es höre, bewegt es etwas in mir? Man kann das Ganze natürlich auch strategischer angehen und gucken, was der Markt hergibt, was funktionieren könnte.

Wie strategisch muss ein Label von der Größe von Karaoke Kalk denken?

Die Umstände verlangen leider, dass ich damit anfangen muss. Im vergangen Jahr hab ich fünf Newcomer-Alben von bislang unbekannten Leuten hintereinanderweg veröffentlicht. Das war ein Schuss in den Ofen. Fünf Debüts hintereinander kann man heute einfach nicht mehr kommunizieren. Darauf musste man vor zweieinhalb Jahren noch nicht achten, da konnte man sicher sein, von jeder Veröffentlichung eine gewisse Stückzahl zu verkaufen. Es gab nie einen richtigen Hype um Electronica, aber von 2000 bis Ende 2003 hat es sehr gut funktioniert. Electronica waren eine feste Instanz im Spektrum elektronischer Tanzmusik von Techno bis Ambient. Dann kam der Einbruch, die Verkaufszahlen gingen in den Keller, vor allem in Deutschland, und keiner weiß, wieso. Deutschland hat als Markt für Karaoke Kalk mittlerweile nur noch Relevanz bei Acts wie März oder Donna Regina. Die meisten Platten verkaufen wir in Japan, dann kommen die USA, dann lange gar nichts und irgendwann mal Deutschland.

Liegt dieser Erfolg in Japan am Karaoke im Label-Namen?

Ja vielleicht, aber höchstens sekundär. Ich glaube, die Japaner haben seit Kraftwerk grundsätzlich eine große Affinität zu Musik aus Deutschland. Und es gibt in Japan eine gesunde, große Szene, die auf diese freundliche, niedlich melodiöse Art von Musik steht.

Warum sind Sie mit dem Label nach Berlin umgezogen?

Nach mehr als 30 Jahren in Köln wollte ich mal was anderes sehen. Köln, so sehr ich es immer noch mag, ist schon sehr speziell und ziemlich saturiert. Es war schon sehr interessant zu sehen, dass die Leute hier so ganz anders unterwegs sind.

Herrscht in Berlin eine kreativere Atmosphäre?

Ich denke schon. Die Leute scheinen sich hier oft mit Musik oder Kunst durchzuschlagen, wenn es sonst nicht so gut läuft. Aber im Prinzip könnte ich Karaoke Kalk von jedem Ort auf diesem Planeten aus betreiben. Wir werden immer zu Unrecht in die Schublade Electronica gepackt, obwohl wir uns schon lange nicht mehr darauf beschränken und bei uns alles möglich ist: Dance und Pop, Heavy oder Death Metal.

Metal auf Karaoke Kalk?

Ja, warum nicht? Ich habe in meiner Vergangenheit durchaus Metal gehört, wenn auch eher Speed Metal wie Napalm Death oder die frühen Slayer.

Schwer vorstellbar, denn so unterschiedlich die Künstler auf Karaoke Kalk auch sind, es gibt ein verbindendes Element: einen grundsätzlich eher romantischen und verträumten Vibe.

Das ist so nicht beabsichtigt. Ich bin jedenfalls kein Romantiker und auch kein Träumer. Aber ich habe mir die Frage auch in Bezug auf die Compilation gestellt: Was verbindet eigentlich die einzelnen Künstler? Warum sind die alle auf meinem Label? Ich weiß es eigentlich nicht, ich weiß nur, dass der Kreis überschaubar ist und zwischen den meisten Arbeitsbeziehungen und manchmal sogar Freundschaften entstanden sind.

Sie veröffentlichen in letzter Zeit deutlich weniger als früher, statt durchschnittlich sechs nur noch drei, vier Platten pro Jahr. Zugeständnisse an den wirtschaftlichen Pragmatismus?

Das letzte Jahr war schon sehr lehrreich für mich, da habe ich schwer auf den Deckel bekommen. Aber das ging ja nicht nur mir so, sondern auch anderen Labels: Momentan hat in Deutschland alles einen schweren Stand, was keine gerade Bassdrum hat. Vielleicht liegt es daran, dass es in manchen Genres wahnsinnig viele Veröffentlichungen gab und zum Teil auch alles gesagt worden ist. Vielleicht liegt’s ja tatsächlich auch am Geld. Aber wenn ich mich umsehe, läuft jeder mit einem iPod rum, der 300 Scheine kostet. Klar ist auf jeden Fall, dass das ganze Geschäft im Umbruch ist und auch MP 3s nur ein Strohhalm sind, an den sich alle klammern. Wenn es so weitergeht, wird es auf jeden Fall schwer, davon zu leben. Aber so schlimm fände ich das auch nicht: Dann ist es halt wieder wie am Anfang, ein Hobby, das einfach nur Spaß macht.

Sieht das Label der Zukunft aus wie Karaoke Kalk, der Einzelkämpfer als Geschmacksinstanz?

Ich merke schon, dass ich an meine Grenzen stoße, denn es ist viel Arbeit. Es gab vor einigen Jahren für mich diesen Moment, in dem ich hätte expandieren können. Den habe ich aber verstreichen lassen. Auch deshalb, weil ich Probleme damit habe, andere Leute in das Label zu involvieren.

Eine überzeugte Ich-AG?

Ja, das bin ich wohl.