piwik no script img

Archiv-Artikel

Neue Fragen im Fall Hatun Sürücü

Wurde die junge Tempelhofer Türkin nicht nur von ihren Brüdern umgebracht, sondern auch von einem vergewaltigt? Damit wiese ihr Schicksal auf ein großes Tabu: Missbrauch in Migratenkreisen

von WALTRAUD SCHWAB

Der Mord an Hatun Sürücü in der Oberlandstraße in Tempelhof am 7. Februar dieses Jahres, der mutmaßlich von drei ihrer fünf Brüder begangen wurde, bekommt zusätzliche Brisanz. Denn wie der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Michael Grunwald, gestern bestätigte, ist ein Ermittlungsverfahren gegen einen der Brüder eingeleitet worden. Es wird untersucht, ob er seine Schwester sexuell missbraucht hat.

Wie die taz berichtete, war die junge Frau, die aus einer kurdischen Familie mit patriarchalem Ehrenkodex stammt, im Alter von 14 Jahren in der Türkei mit einem Cousin verheiratet worden. Weil er sie schlug, habe sie sich von ihm getrennt und sei schwanger nach Berlin zurückgekommen. In der Folge, berichtet die Berliner Zeitung, sei es zu ihrer Vergewaltigung durch den Bruder gekommen. Weil die Schwester ein immer unabhängigeres Leben führen wollte, wurde sie schließlich ermordet.

Die Zeitung berichtet weiter, dass Sürücü Freunden erzählt habe, dass ihr Bruder sie als 15-Jährige vergewaltigte und dies ein Jahr später wiederholte. Die Staatsanwaltschaft machte gestern keine Angaben dazu, wann und wo die Übergriffe geschehen seien und gegen welchen der Brüder ermittelt wird. Auch dass per DNA-Analyse untersucht worden sei, ob der Missbraucher zudem der Vater des Sohnes von Sürücü ist, kommentierte Sprecher Grunwald nicht.

Der Mord an Sürücü hatte bundesweit Aufmerksamkeit auf Probleme wie Ehrenmord und Zwangsheirat in Migrantenkreisen gelenkt. Letztere soll in Deutschland bald strafrechtlich verfolgt werden. Anhand des Schicksals von Sürücü wird nun ein weiteres Tabu – das des Missbrauchs – gebrochen.

„Sexueller Missbrauch in Migrantenfamilien ist ein noch besser gehütetes Geheimnis als Zwangsheirat und Ehrenmord“, sagt die Rechtsanwältin Seyran Ates, die Migrantinnen mit Gewalterfahrungen vertritt. Ates ist überzeugt, dass es kein Zufall ist, dass sie gestern eine dezidierte Hassmail von einem Muhammed Ö. erhielt, die der taz vorliegt. Darin wird Ates beschimpft und aufgefordert, sich um missbrauchte deutsche Kinder anstatt um muslimische Zwangsehen zu kümmern.

„Zu sexuellem Missbrauch im Migrantenmilieu gibt es keine Statistiken“, sagte auch Sibylle Schreiber von „Terre des Femmes“ zur taz. Vielmehr werde angenommen, dass Übergriffe in Migrantenfamilien genauso häufig vorkommen wie in deutschen Familien. Vorliegende Statistiken zu Missbrauch in Deutschland variieren jedoch stark. So soll statistisch jedes vierte bis sechste Mädchen und jeder sechste bis dreizehnte Junge missbraucht werden. Schreiber berichtete, dass auf einer Fachtagung zu „Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrantenhintergrund“ Untersuchungen in diesem Milieu gefordert wurden. Klar scheint nur, dass betroffene Jugendliche mit geringen Deutschkenntnissen für öffentliche Hilfsangebote unerreichbar seien.