: Der Kleinmut des Ehrlichen
Keine Versprechen machen, die man nicht halten kann – das gilt heute als politische Tugend. Dabei leidet der politische Disput an zu viel Ehrlichkeit. Ein Plädoyer für kleine Lügen und große Visionen
VON ROBERT MISIK
Es gibt Verdruss an der Politik. Der sei, so heißt es, ein Resultat der Unehrlichkeit. Am Stammtisch klingt das dann so: Politiker lügen wie gedruckt. Ehrlichkeit ist ein Fremdwort für sie.
Nun hat die Union also Ehrlichkeit zum Programm gemacht. Weil sie schon vor der Wahl sage, dass sie die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent erhöhen werde, sei sie eine ganz tolle Typin, lässt Kanzlerkandidatin Angela Merkel ihre Hofschranzen verbreiten. Dabei kann man sich fragen, ob die Ausgangsthese überhaupt so stimmt. Ist es denn wirklich so, dass die Parteien das Blaue vom Himmel versprechen? Dass sie vor den Wahlen das eine sagen und nach den Wahlen das andere machen? Dass früher mehr Ehrlichkeit in der Politik herrschte?
Mal ehrlich: Ist nicht gerade das Gegenteil der Fall? Leiden unsere politischen Diskurse nicht an geradezu maßloser Ehrlichkeit? Jeder Politiker versucht sich als ehrliche Haut zu geben. „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann“ ist eine der Standardformeln von Politikern aller Couleur. Wenn man sie nach großen Linien, nach Ambitionen fragt, dann machen sie sich klein: Macht, Macht, habe doch kein Kanzler, kein Ministerpräsident. Eingezwängt von Föderalismus, Globalisierung und Europäischer Union, Sachzwängen und Weltmärkten ist der Politiker von heute doch das einflussloseste Hascherl, das man sich nur vorstellen kann.
Den Sozialismus einführen? Eine geistig-moralische Wende durchsetzen? Das verspricht heute keiner mehr. Wär’ doch unehrlich. Weiß doch jeder, dass das nicht geht. Für mehr Gerechtigkeit sorgen? Könn’ wa leider nich, sagen wir ganz ehrlich. Tut uns echt Leid. Aber wir sagen’s ganz offen. Wir versprechen ja nichts, was wir … Und so weiter.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die Politiker der großen Parteien wären eine Spur unehrlicher; stellen wir uns vor, sie würden konkurrierende, klar konturierte Gesellschaftsmodelle vertreten, ja: Menschenbilder verfechten, die man unterscheiden kann. Auf der einen Seite die, die meinen, jeder solle seines Glückes Schmied sein, nicht auf die soziale Hängematte vertrauen, für die Gerechtigkeit heißt, dass jedermanns Wohlfahrt davon abhängen soll, was er leistet; auf der anderen Seite jene, für die Gerechtigkeit nicht nur heißt, dass die Einzelnen gegen die krassesten Lebensrisiken abgesichert sein sollen, sondern dass soziale Gerechtigkeit eine Gesellschaft der Ähnlichen mit weniger sozialen Unterschieden voraussetzt, und einen aktivistischen, starken Wohlfahrtsstaat braucht. Und stellen wir uns zudem vor, diese klar voneinander unterscheidbaren Politikertypen würden uns auch noch den Eindruck vermitteln, sie würden mit Leidenschaft für ihre Gesellschaftsmodelle eintreten.
Das wäre natürlich unehrlich. Wir wüssten das auch. Wir würden dann abwinken und sagen: Wird schon nicht so heiß gegessen wie gekocht. Politik verfügt nicht über die Ressourcen, solch ambitionierte Versprechen in die Realität umzusetzen. Aber wäre in einem solchen Arrangement wirklich wünschenswert, dass, wenn schon nicht so heiß gegessen wie gekocht wird, deswegen gleich auch nur mehr auf Sparflamme gegart wird? Natürlich nicht. Eine solche Art von Unehrlichkeit würde den Verdruss nicht vergrößern, sondern sie wäre ein Programm gegen den Verdruss.
Früher grassierte die Unehrlichkeit. Da ließen die Unionsparteien plakatieren, wenn die SPD gewinne, drohe der Bolschewismus; die SPD-Leute wiederum trieben das Gespenst über den politischen Marktplatz, dass so etwas wie der Faschismus Einzug halte, wenn beispielsweise Franz Josef Strauß gewinne.
Man muss es ja nicht gleich so weit ins Karikaturhafte übertreiben. Aber ein lebendiger politischer Disput setzt einen gewissen Grad an Unehrlichkeit voraus. Wer bereits a priori allen Ton auf die Umstände legt, die die Realisierung der eigenen politischen Programmatik erschweren, der steht schnell ohne jede Programmatik da. Kurzum: Zu viel Ehrlichkeit höhlt das Politische aus. Und: Oft ist Ehrlichkeit im politischen Feld nur ein anderes Wort für Kleinmut.
Überhaupt ist die Kehrseite dieser Ehrlichkeit das Übergewicht des politischen Marketings – also, wenn man so will, die Unehrlichkeit. Denn wenn sich schon die politischen Programmatiken der Parteien in etwa so sehr voneinander unterscheiden, wie Coke von Pepsi, dann braucht es viel Spin und viel Werbung, um die kleine Differenz zum „Alleinstellungsmerkmal“ aufzublasen.
Wenn Politiker also sagen: „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann“, dann ist gerade das ihr – und unser – Problem.