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Nummeriert und abgeheftet

Sam Zamrik kam vor sechs Jahren nach Deutschland. Der 24-jährige syrische Lyriker und Musiker ärgert sich, dass es ihm trotz all seiner Bemühungen so schwer gemacht wird, als vollwertiger Mensch anerkannt zu werden

Foto: Juliette Moarbes

Von Sam Zamrik

Nach sechs Jahren als Geflüchteter in Deutschland ist mir eines klar geworden: dass Integration ein unendliches Rennen bedeutet. Stabilität gibt es für uns nicht, Stabilität wird Flüchtlingen wie mir künstlich vorenthalten. Vielleicht um uns auf Trab zu halten, vielleicht damit wir nicht zu ehrgeizig werden. Flüchtlinge wie ich sind von einer unsichtbaren Membran umgeben, die uns in einer anderen rechtlichen und damit sozialen Realität hält als Menschen, die nicht zu den Flüchtlingen gehören. Wenn ich mich also neben Nichtflüchtlinge setze, sitzen wir in unterschiedlichen Welten.

Deutschland lässt mir meine Zukunft als Bürger eines demokratischen Nationalstaats vors Gesicht baumeln und verspricht mir diese Zukunft im Gegenzug für meine Integration. Ein solcher Deal mag für einen jungen, liberalen Denker gut klingen – und tatsächlich war ich als Neuling geradezu begeistert, in einem Land gelandet zu sein, in dem ich endlich ein Gleicher unter Gleichen sein konnte, nachdem ich mein ganzes Leben lang klein gemacht worden war. Ich freute mich – ein völliger Neuanfang nach so vielen Abbrüchen kam mir unglaublich vor! Menschenrechte bedeuten Menschenwürde – das ist doch so, oder?

Nach sechsmonatigem Warten in Erstaufnahmeeinrichtungen und drei Gesetzesänderungen bekam ich 2016 endlich meinen Anhörungstermin. Ich hatte gebeten, auf Englisch sprechen zu dürfen, da ich meine Geschichte aufgrund von Traumata nicht auf Arabisch erzählen konnte. Die Frau, die mich befragte, sprach auch Englisch, fühlte sich aber anscheinend unsicher und beschloss, die Anhörung trotz meiner Bitte von dem offensichtlich unfähigen Übersetzer auf Arabisch durchführen zu lassen. Wenn ich ihn in seiner Übersetzung korrigierte, begann er nur schneller und unklarer zu sprechen. So wurde meine ganze Geschichte zerpflückt.

Kurze Zeit später, als ich in der Notunterkunft auf und ab lief und immer wieder den Satz „Echte Dichter dichten leichter bei Licht“ vor mich hin flüsterte, um den verdammten „ch“-Laut zu lernen, sagte mir ein anderer Syrer, dass ich in zwei Jahren die Staatsangehörigkeit bekommen würde, wenn ich so weitermachte und den Hunger, den ich beim Deutschlernen hatte, beibehalten würde.

Doch so kam es trotz anhaltenden Hungers nicht, denn ein paar Verlegungen von einem Quartier ins andere später erreichte mich der Anhörungsbescheid: „Asylstatus nicht zuerkannt. Subsidiärer Schutzstatus gestattet.“ Das bedeutete, dass ich nur eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr bekam und ab nun jedes Jahr meinen Aufenthaltstitel erneuern und beweisen musste, dass es – jenseits des Krieges in Syrien – einem Grund dafür gab, weiter in Deutschland zu bleiben.

Für eine unbefristete Niederlassungserlaubnis muss ich nun neben ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen und weiteren Punkten auf einer sich ständig verlängernden und sich ohne Nachvollziehbarkeit ändernden Checkliste nachweisen, dass ich keine Sozialhilfe beziehe und mich weiterbilde, um einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen. Die wenigen Momente des Unbehagens, die die Interviewerin beim Englischsprechen empfunden hatte, hatten also mein Schicksal unwiderruflich für die absehbare Zukunft entschieden.

Ein paar Monate später bestand ich eine Deutschprüfung: Ich hatte nur 70 der gesetzlich vorgeschriebenen 600 Kursstunden benötigt, um ein B1-Niveau-Zertifikat zu erhalten – Check! Danach lernte ich, wie das deutsche Wahlsystem funktioniert. Doch wenn ich das Kursmaterial dieses „Orientierungskurses“ einem deutschen Freund zeigte, wunderte der sich: „So funktioniert das?!“ Anscheinend wusste nicht jeder Deutsche, was ich nun gelernt hatte. Mich hingegen wunderte vor allem, warum wir alles über ein Wahlsystem lernen sollten, wenn wir gar nicht wählen durften. War Deutschland vielleicht tatsächlich daran interessiert, uns einzubürgern? Mit dem Ausblick auf eine Wahlberechtigung ließ Deutschland mir wieder eine verheißungsvolle Möglichkeit vors Gesicht baumeln.

Sam Zamrik ist ein in Damaskus, Syrien, geborener Lyriker, Übersetzer und Musiker. An der Universität Damaskus studierte er Englische Sprache und Literatur – bevor er aufgrund des Krieges in Syrien das Land verlassen musste und nach Deutschland kam. Kürzlich hat er als Stipendiat am Bard College Berlin seinen BA in Politik und Literatur erworben, im Herbst erscheint seine Lyriksammlung „Sophistry of Survival“ im Hanser Berlin Verlag. Daneben ist er weiter in der Untergrund-Musikbewegung „New Wave of Syrian Metal“ aktiv sowie Manager und Texter der Metal-Band „Eulen“. Unterstützt wird Zamrik von „Weiter Schreiben“, einer Plattform für Literatur und Musik des „Wir machen das“-Netzwerks. Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten arbeiten dabei mit deutschsprachigen Kolleg*innen zusammen, ihre Texte werden online veröffentlicht. So sollen individuelle Ressourcen gefördert, Möglichkeiten zum Austausch geschaffen und Teilhabe ermöglicht werden. Auf der „Wir machen das“-Webseite heißt es: „Wir sprechen alle Menschen in ihrer Expertise an und nicht als Hilfsbedürftige, denn unterschiedliche Perspektiven bereichern den hiesigen Diskurs.“

Doch es stellt sich heraus, dass es vor allem eines war: die gute alte Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik. Das Zuckerbrot in diesem Deal ist die Aussicht auf ein Leben jenseits von Verlust und Entmenschlichung; die Peitsche ist, dass ich in jedem Moment unter den Deutschen beweisen muss, entweder „einer der Guten“ oder ein unbeschriebenes Blatt zu sein. In beiden Fällen bleibt mir nur eine Rolle: der dankbare Flüchtling; ein Flüchtling, der nachgiebig und jederzeit bereit ist, befragt zu werden und Anweisungen zu befolgen.

Ich werde entweder fetischisiert oder problematisiert, zu einem Ding gemacht, nummeriert und abgeheftet (Marx nannte das Verdinglichung). So oder so werde ich auf diesem Wege nie ein vollwertiger Mensch – denn vollwertiges Menschsein ist ein Privileg. Meine Vergangenheit, all das, was an mir syrisch ist, soll modifiziert und ins Lächerliche gezogen werden oder es soll verschwinden, denn dieses Syrischsein in mir ist fremd und unheimlich. Die Qualifikationen, Fähigkeiten oder Ideen, die ich haben könnte, zählen nicht oder werden abgewertet, weil sie nicht von einer Autorität ausgestellt worden sind, die von deutschen Ämtern anerkannt und identifizierbar ist.

Sechs Jahre, vier Aufenthaltsverlängerungen und ein (nichtdeutsches) BA später werfe ich mich weiter gegen diese unsichtbare Membran, um sie zu durchdringen. Ich hoffe, eines Tages einen Tag Stabilität zu erleben. Doch die Membran gewinnt immer noch, weil ich mich in mich selbst und in mein Exil zurückgezogen habe, um geschützt zu bleiben. Dieser Flüchtling ist noch auf der Flucht, auch wenn er still steht.