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Der Wahrheit auf der Spur

Die Ausstellung „Investigative Commons“ im Foyer des Hauses der Kulturen der Welt stellt künstlerisch-technologische Strategien zur Aufklärung von Verbrechen vor

Von Tom Mustroph

„Wenn es der Wahrheitsfindung dient“, sagte vor mittlerweile 54 Jahren der Kommunarde und (nicht nur) Spaßguerrillero Fritz Teufel vor einem Berliner Gericht und kommentierte so die Aufforderung des Richters, sich zu erheben. Der bürgerlichen Justiz bei der Wahrheitsfindung zu helfen, war lange Zeit eher nicht so die Sache von Akteuren aus eher linkeren Milieus.

Diese Beziehung hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert. Das lässt sich jedenfalls mit der Foyerausstellung „Investigative Commons“ im Haus der Kulturen der Welt eindrucksvoll verfolgen. Die Wahrheit mit performativen Enactment-Strategien herauszudestillieren ist mittlerweile zu einer regelrechten Spezialdisziplin geworden, die gleichermaßen vor Gerichten, in Ausstellungsräumen und in den Medien zur Aufführung gelangt.

Künstlerisch wie technologisch avancierte Ermittlungskollektive wie Forensic Architecture und Bellingcat haben Bahnbrechendes geleistet bei der Aufklärung von politisch motivierten Straftaten sowohl von staatlichen Organen wie etwa dem Repressionsapparat von Syriens Präsidenten Assad oder griechischen Grenzpolizisten, aber auch von rechten Terrororganisationen wie dem deutschen NSU oder der griechischen Gruppierung „Goldene Morgenröte“.

Einblick in einzelne dieser sehr umfangreichen Projekte bietet „Investigative Commons“. Auf einem Areal, dessen Boden mit dem Grundriss des Internetcafés aus Kassel versehen ist, in dem 2006 Halit Yozgat vom NSU erschossen wurde, wird man in die Videoproduktion hineingesogen, mit der Forensic Architecture akustisch wie visuell die Mordtat nachstellte. Akribisch werden Wege nachverfolgt. Der Klang der Schüsse wird an verschiedenen Positionen aufgezeichnet und so in immer neuen Schichten der Hergang konstruiert.

Am Ende dieses aufwändigen Reenactments steht die Schlussfolgerung der forensischen Gestalter, dass der im Café anwesende Verfassungsschützer Holger Temme entgegen eigener Behauptungen die Ermordung offenbar doch direkt miterlebt haben muss. V-Mann-Führer Temme, zu Jugendzeiten nach Aussagen eines Zeugen im NSU-Untersuchungsausschuss mit dem Spitznamen „Klein Adolf“ unterwegs, musste bisher juristisch nichts fürchten, obgleich seine Anwesenheit beim Mord durchaus den Verdacht zur Unterlassung der Verhinderung einer Straftat erzeugt.

Größeren Eindruck als bei der Justiz hinterließ das Simulationsprojekt in der Kunstwelt. Die Videoarbeit war auf der Documenta 14 ausgestellt; 2018, ein Jahr nach Fertigstellung des Projekts, schaffte es Forensic Architecture auch auf die Shortlist des Turner Prize, des weltweit wohl einflussreichsten Kunstpreises.

Bemerkenswert ist bei vielen Projekten die technologische Expertise. Für die Aufklärung von Todesfällen von Mi­gran­t*in­nen an der türkisch-griechischen Grenze in den Jahren 2019 und 2020 sammelte Forensic Architecture nicht nur Unmengen von Videomaterial aus Smartphones und Überwachungskameras. Die Gruppe ordnete die Aufnahmen auch in eine Zeitleiste ein und lokalisierte sie auf einer digitalen Karte. Open- Source-Software wie TimeMap hilft bei der Verknüpfung der unterschiedlichen Daten.

So entstand auch die beeindruckende Arbeit von Forensic Architecture und BellingCat zur Dokumentation von Polizeiübergriffen im Kontext von Black-Life-Matters-Protesten. Auf einer großen Karte der USA sind die einzelnen Ereignisorte markiert. In immer tieferen Schichten stößt man auf Bild- und Videomaterial, auf Social-Media-Posts und klassische Nachrichtenbeiträge und kann sich schließlich ein multiperspektivisches Bild von den Fällen verschaffen.

Forensic Architecture, BellingCat und ähnliche Gruppen entwickeln damit eine neue, den aktuellen medialen Möglichkeiten angemessene Form von investigativem Journalismus. Sie heben die Bildschätze von Social Media und verknüpfen sie mit anderen Daten.

Der Klang der Schüsse wird an verschiedenen Positionen aufgezeichnet

Teil der Arbeit ist auch die digitale Rekonstruktion von Räumen. Aufnahmen von realen Räumen, oft deren Außenfassaden, werden mit digitalen Simulationen des Inneren verknüpft. Es entstehen hybride, forensisch erzeugte Räume.

Mit diesen Video- und Installationsarbeiten, die in ihrer Ästhetik gelegentlich auch an Videogames erinnern, werden zugleich neue Formen der Repräsentation von Wirklichkeit kreiert. Die Recherchearbeit mäandert in künstlerische Gefilde.

Die verschiedenen Projekte – auch die Aufklärung eines Brands in einer pakistanischen Textilfabrik, die Bombardements im Jemen und die Ermordung eines Musikers durch die rechtsextreme „Goldene Morgenröte“ in Athen gehören dazu – machen allerdings auch deutlich, dass all diese Auswertungsarbeit nur dank der massiven audiovisuellen Einverleibung unserer Welt möglich ist. Nicht bei jedem Handyfoto sind Kontrolle und Überwachung die handlungsauslösenden Motive. Aber sie fügen sich als Footage in ein allgemeines und allgegenwärtiges Überwachungsszenario ein. Dies ist die dunkle Kehrseite dieser ansonsten sehr verdienstvollen Projekte.

Die Ausstellung ist dankenswerterweise ganz einfach zugänglich. Sie ist kostenfrei, nicht einmal ein Coronatest ist nötig.

Bis 8. August, HKW, www.hkw.de

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