: Tiefe Melancholie und ein sensationeller Stunt
Zum 200-jährigen Jubiläum des Konzerthauses erschaffen La Fura dels Baus für ihre Inszenierung von Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ eine 360-Grad-Bühne
Von Katharina Granzin
Ein rundes Jubiläum stellt man sich eigentlich anders vor. Aber das hier ist besser als nichts; viel besser. Sogar das Fernsehen ist da. Also: nicht hier, sondern da. „Hier“ ist der Gendarmenmarkt, auf dessen Pflaster 250 weiße Kreise gemalt wurden, in denen je zwei Stühle Platz finden. Und „da“ ist: innen im Konzerthaus, ehemals „Schauspielhaus“, das 2021 sein 200-jähriges Bestehen feiert. Nur einen Monat nach Eröffnung der Spielstätte konnte das Berliner Publikum am 18. Juni 1821 die Uraufführung eines Werkes erleben, das als die deutsche Oper der Romantik, sogar die deutsche Oper schlechthin, in die Musikgeschichte eingehen sollte: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber.
Was hätte näher liegen können, als diesen unverwüstlichen Klassiker zum runden Geburtstag des Hauses zu spielen – ausnahmsweise, denn Opern gehören sonst nicht zum Arbeitsauftrag eines Konzerthauses. Eine wagemutige Idee. Dann kam Corona, und alles musste neu durchdacht werden. Schließlich entwickelten die katalanischen Körpertheaterspezialisten La Fura dels Baus, die mit der Inszenierung betraut worden waren, ein so spektakuläres wie pandemietaugliches Konzept: Das ganze Konzerthaus wird zur 360-Grad-Bühne, das Publikum draußen, verfolgt das Ganze per Livestream am Fernseher – oder, wer einen Sitzplatz ergatterte, auf dem Gendarmenmarkt, wo vor den eingangs erwähnten 500 Stühlen zwei Leinwände aufgebaut worden waren.
Nun hat der „Freischütz“, was das Libretto betrifft, so einiges an sich, das heute kein Mensch mehr ernst nehmen kann. Zudem strotzt es vor Unwahrscheinlichkeiten, eingebaut zu dem Zweck, der im Prinzip tragisch angelegten Handlung doch zu einem glücklichen Ende zu verhelfen. Kurzer Abriss: Der nette Jägerbursche Max ist verliebt in die Försterstochter Agathe. Um sie heiraten zu dürfen, muss er sich jedoch würdig erweisen, als Nachfolger die Stelle ihres Vaters zu übernehmen, und dafür mit einem Probeschuss sein Können beweisen. Da Max in der letzten Zeit viel Pech bei der Jagd hatte, geht er, angestiftet vom bösen Kaspar, einen Bund mit Samiel ein, der Teufelsgestalt, die sich ihm nachts in der finsteren Wolfsschlucht offenbart. Sechs Freikugeln gesteht Samiel ihm zu, die jedes Ziel treffen, das Max sich wünscht. Die siebte Kugel aber ist des Teufels …
La Fura dels Baus haben für dieses an Gothic-Elementen reiche Jägermärchen eine opulente Optik entworfen, die aus dem sonst so gediegenen Saal des Konzerthauses ein Areal der magischen Verwandlungen macht. Aufwändige Lichtprojektionen zaubern dunklen Wald, akrobatisch begabte Fantasiegestalten hüpfen durchs Bild, und die offenbar furchtlose Sängerin der Agathe, Jeanine De Bique stürzt sich in einem ziemlich sensationellen Stunt vom Schnürboden. De Bique ist sowieso eine Wucht, der unbestrittene Star des Abends. Mit ihrem samtenen Sopran, der auch in der Höhe seinen weich schimmernden Glanz bewahrt, und einer überragenden Bühnen- bzw. Kamerapräsenz verleiht sie der Rolle der Agathe eine Aura tiefer Melancholie, die jedem einzelnen ihrer makellos gesungenen Töne innezuwohnen scheint.
Keckes Berlinern
Im Kontrast dazu steht die ebenso makellose Anna Prohaska, die Agathes lebenslustige Freundin Ännchen singt und in ihren Sprechpassagen keck berlinert. Auch Benjamin Bruns als Max hätte am Schluss etwas mehr Applaus verdient gehabt, als alle Mitwirkenden auf die große Treppe des Konzerthauses treten. Etwas weniger intonationssicher als die superben Kolleginnen in den weiblichen Hauptrollen, leistet Bruns doch auf der Langstrecke stimmlich Großes mit seinem freundlichen, niemals in Pathetische abgleitenden Tenor und ist als Max ein glaubwürdig naiver Antiheld mit hohem Identifikationspotenzial. Denn wer könnte schon sicher sein, in ähnlicher Situation den Versuchungen des sinistren Samiel auf jeden Fall zu widerstehen? Allerdings scheinen La Fura dels Baus mit dieser deutsch-romantischen Teufelsversion nicht sehr viel anfangen zu können. Ihr Fantasy-inspierter Samiel ist, in schwarzer Rüstung und mit Adlerschwingen, ausstaffiert wie eine Comicfigur und wirkt eher ulkig und ein bisschen fehl am Platz als ernsthaft bedrohlich.
Die „helle“ Seite der „Freischütz“-Welt, exemplarisch in Agathes Brautjungfern verkörpert („Wir winden dir den Jungfernkranz“), inszenieren die Katalanen dagegen auf die langweiligst vorstellbare, konventionellste Weise. Aber insgesamt ist es ein Abend mit vielen visuellen Highlights, und musikalisch sowieso ein Hochgenuss – nicht zuletzt dank Christoph Eschenbach und dem Konzerthaus-Orchester sowie den nervenstarken Menschen an der Tontechnik.
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