Der letzte Bundesbürger

Lafontaines Konzept läuft auf einen „Keynesianismus in einem Land“ hinaus. Wie er das Land gegen Arbeitsmigration abschotten will, sagt er nicht

AUS BERLIN UND WIESBADEN ROBIN ALEXANDER

Noch eine Frage aus der achten Reihe: Wie sollen die wenigen Jungen in ein paar Jahrzehnten die Rente der vielen Alten bezahlen? Geht das überhaupt ohne Reformen? Oskar Lafontaine legt die Lesebrille auf ein Exemplar seines Buches „Politik für alle“ und schaut huldvoll vom Podium auf den Frager. Natürlich hat er eine Antwort.

Man dürfe „die Produktivität als Schlüsselfaktor der Ökonomie“ nicht vergessen, doziert Lafontaine. Vor einhundert Jahren, beispielsweise, habe ein Arbeiter in der Landwirtschaft gerade genug erwirtschaftet, um sich selbst zu ernähren. Vor fünfzig Jahren hingegen, habe ein Landwirt schon zwölf Menschen ernähren können. Und heute könne ein einziger Landwirt sogar einhundert Menschen ernähren. Der Frager, der sich um die Rente sorgt, guckt jetzt noch fragender. Da fasst Lafontaine beherzt zusammen: „Also: Ein Junger kann 99 Alte durchfüttern.“ Zack. Schon ist die demografische Katastrophe als Trick der Finanzwirtschaft entlarvt. Die Rente ist sicher. Nächste Frage bitte.

Wer nachts nicht schlafen kann, weil er sich Sorgen um die Zukunft des Landes macht, dem sei der Besuch der Veranstaltungen von Oskar Lafontaine empfohlen. Die zu hohen Lohnnebenkosten? Ein ideologisches Konstrukt. Die Staatsverschuldung? Nebensächlich. Das schwache Wirtschaftswachstum? Hausgemacht. Die Arbeitslosigkeit? Die Rezepte sind bekannt. Eigentlich ist alles in Ordnung, nur die Politik – „und zwar die Politik aller im Bundestag vertretenen Parteien“ – ist leider völlig falsch.

Lafontaine formuliert seine Antworten akademisch und belegt sie mit Beispielen und Statistiken, doch es sind einfache Antworten. Es gibt im Deutschland des Jahres 2005 ein Bedürfnis nach dieser Art Antworten. Ein breites Bedürfnis. Lafontaines Publikum sind nicht nur Arbeitslose und Rentner, die nicht mitkommen mit den Sozialreformen. Es sind auch viele, die nicht mehr mitwollen: Am Abend eines heißen Sommertages sind einhundert Leute in den „Schwarzen Bock“, das teuerste Hotel Wiesbadens, gekommen. Sie haben 20 Euro Eintritt bezahlt, ein Glas Sekt inklusive. Es sind Lehrer, Gewerkschafter, Unternehmer, ein Klinikarzt und eine Frau, die ein kleines, privates Theater betreibt. Menschen, die nicht persönlich von Hartz IV betroffen sind, sondern einfach den guten, alten Sozialstaat für gerechter, bequemer oder zumindest übersichtlicher halten als die chaotische Reformbaustelle, die Rot-Grün aus Deutschland gemacht hat.

In den Zeitungen wird Lafontaine angefeindet. Im Land nicht. Auf dem WASG-Parteitag in Kassel wird er gefeiert, aber auch im exklusiven Airport Club Frankfurt hören ihm Manager aufmerksam und wohlwollend zu. Warum auch nicht? Lafontaine echauffiert sich, aber er geifert nicht, schreit nicht und tobt nicht. Sein Stil ist nicht der eines Radikalen. Seine Inhalte auch nicht. Wer Lafontaine zuhört, merkt: Hier spricht gar kein echter Roter. Und schon gar kein Brauner. Lafontaines Thesen liegen zwischen Karl Schiller und Ludwig Erhard. Und Lafontaines Witze („Ändert sich beim Wechsel von Schröder zu Merkel wirklich gar nichts? Doch, die Frisur.“) liegen oft nahe an Heinz Erhard.

Lafontaine bekommt Applaus, weil er an bessere Tage erinnert: an die Bonner Republik. Das Westdeutschland, das 1989 zu Ende ging. Ein Land, dessen Verteilungskämpfe um Zuwächse geführt wurden. Ein Land, das keine Kriege führte. In seinen Vorträgen und Lesungen erschafft er die verlorene Heimat neu für eine halbe bis drei viertel Stunde. Nach dieser Dosis Lafontaine sind Gewerkschafter keine Auslaufmodelle mehr, sondern „Sozialpartner“. Beschäftigte sind kein Kostenfaktor mehr, sondern die „besten Facharbeiter der Welt“. Jetzt müsste nur noch die SPD eine sozialdemokratische Partei werden, und alles wäre wieder in Ordnung.

Es gibt nur einen Ort im Land, wo man keine Lafontaine-Fans findet. Das ist das politische Berlin. Alle, wirklich alle haben sich abgewandt. Auch die Hoffnungsträgerin der Gewerkschaften, Andrea Nahles, auch der linke Fraktionsvize Michael Müller. Oft fällt das Wort „Verrat“, wenn man mit Sozialdemokraten über Lafontaine spricht.

Eine gibt es noch, die Lafontaine nicht die Freundschaft gekündigt hat. Im großen, hellen Büro der Bundestagsvizepräsidentin schenkt Antje Vollmer dem Gast eine Tasse Kaffee ein und stellt als Erstes fest: „Oskar Lafontaine ist kein Charakterschwein.“ Die Grünen-Politikerin kennt ihn viele Jahre. Beide träumten in den 80ern von einem rot-grünen Westdeutschland. Beide waren gegen die schnelle Einheit. Vollmer hat ihn nach dem Attentat 1990 im Krankenhaus besucht und bei seinem Ausstieg aus der Koalition 1999 gegen den „unterkomplexen“ Verratsvorwurf in Schutz genommen. Heute formuliert die Politikerin besonders bedächtig. Sie tritt bei den Neuwahlen nicht wieder an. In diesen Tagen denkt Vollmer oft an Lafontaine: Sie glaubt, mit ihm hätte Rot-Grün ein besseres Ende genommen als mit den Machos Schröder und Fischer.

Aber mit der Linkspartei hat er doch das Ende mit heraufbeschworen, oder? „Sicher“, sagt Vollmer: „Die Angst vor Lafontaine und seiner Linkspartei ist das einzige Motiv Schröders für die vorgezogene Neuwahl, das Sinn ergibt.“ Anders als viele glaubt Vollmer nicht, Lafontaine sei von Rachedurst getrieben. So destruktiv sei er nicht. Sie hat eine Theorie zu Lafontaine. Es ist eine Theorie, wie sie nur echte 68er entwerfen können: in ganz großen Dimensionen und mit einer dialektischen Wende.

„Vermutlich will Lafontaine, indem er die Linke vordergründig spaltet, eigentlich zur linken Einheit beitragen. Er schafft sich seine eigene USPD, um diese in eine paar Jahren feierlich in eine erneuerte SPD zu führen. Ein heikles Unterfangen.“ Nebenbei kassiere Lafontaine noch die PDS ein und heile so das Trauma der Zwangsvereinigung und die strukturelle Schwäche der SPD in den neuen Ländern. Alles würde gut.

Bis jetzt ist noch nichts gut. Bis jetzt sieht Lafontaine nur gut aus. Für den Sommer seines Comebacks hat er ein legeres Outfit gewählt. Er trägt helle Anzüge, nie Krawatten und den obersten Hemdknopf stets geöffnet. Er sieht leicht gebräunt aus und schwer erholt: Lafontaine wirkt nach drei Wochen, in denen er täglich in den Medien zum Demagogen, zum Rattenfänger und zum Heuchler erklärt wurde, als käme er gerade aus einem langen, schönen Urlaub. „Wem die Argumente ausgehen, der greift eben zu persönlicher Diffamierungen“, tut Lafontaine alle Attacken gegen sich ab. Politiker wissen, dass Betroffenheit zeigen als Schwäche ausgelegt wird, die zu weiteren Angriffen einlädt. Aber Lafontaine ist keine von diesen emotional undurchlässigen Teflon-Existenzen. Im Gegenteil: An ihm prallt nichts ab, er saugt alles gierig ein. Die Zeit vergleicht ihn mit Haider. Der Spiegel ekelt sich davor, dass arme Leute zu seiner Gefolgschaft gehören. Aber die scharfe Kritik und die offene Verachtung, die Lafontaine entgegenschlagen, machen ihn nicht unsicher. Im Gegenteil: Lafontaine scheint daran zu wachsen. Der junge Lafontaine war einer der Ersten, der zugab, Politik auch zu betreiben, um geliebt zu werden. Beim alten Lafontaine hat sich das Prinzip umgekehrt. Es ist, als lade ihn der Hass seiner Gegner mit Energie und Bedeutung auf.

„Mir geht es allein um Inhalte“, sagt Lafontaine. Weil er seine Inhalte nicht durchsetzen konnte, habe er 1998 alle Ämter hingeworfen. Als ob er dies dadurch beweisen könne, bleibt er seitdem bei seinen Ansichten: zur Kontrolle der internationalen Finanzwirtschaft, zur Binnenkonjunktur, zu allen Details. Lafontaine bewegt sich kein Stück mehr. Seit Jahren.

Das ist nicht leicht. Im Gegenteil, es ist sehr aufwändig. Lafontaine hat nicht weniger als eine eigene Ideologiekritik konstruieren müssen, um sich abzuschotten gegen den Diskurs, der nicht mit ihm stehen geblieben ist. Mit Zitaten von Adorno („Die Linke spricht die Sprache der Rechten“) und Anklängen an Orwell („Der Neoliberalismus ist ein totalitärer Ansatz“) hat Lafontaine sich einen Verblendungszusammenhang gebaut, den er allen unterstellt, die nicht seiner Meinung sind.

Als Lafontaine dieses Kapitel seines Buches im Wiesbadener „Schwarzen Bock“ vorträgt, beginnen einige Damen, sich mit den mitgebrachten Notizzetteln Luft zuzufächern. Ein Bärtiger nimmt seine Brille ab und putzt seine Gläser. Lafontaine verliert sein Publikum bei diesen Theorien, die gar nicht bundesrepublikanisch sind. Nach der Veranstaltung sagen die Leute, sie glaubten, Lafontaine sei mutwillig missverstanden worden, als er in Chemnitz rief, der Staat müsse deutsche Familienväter und Frauen vor der Konkurrenz durch Fremdarbeiter schützen.

Die Umfragewerte der Linkspartei, die es noch nicht gibt, steigen in den nächsten Tagen. Auch, als Lafontaine nicht aufhört, den Begriff „Fremdarbeiter“ zu rechtfertigen. Auch, als er zum Besten gibt, die Nazis seien „rassistisch, aber nicht in erster Linie fremdenfeindlich“ gewesen. Auch, als er Kritik vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden damit abtut, auch „Verbände“ seien „verpflichtet, sich zu informieren“.

Lafontaine wird glühend verehrt von seinen Anhänger und glühend gehasst von seinen Gegnern: Kritisch hinterfragt wird sein Konzept, das auf einen „Keynesianismus in einem Land“ hinausläuft, nirgends. Lafontaine beantwortet viele Fragen. Aber nicht, wie er eigentlich dieses Land vor Arbeitsmigration und Kapitalflucht schützen will.

Einen gibt es, der Lafontaine fragt – wenn auch ein wenig schüchtern. Lothar Bisky, der Vorsitzende der PDS, auf deren Liste und mit deren Geld Lafontaine antreten wird, bittet ihn um „einen anderen Sprachgebrauch“. Parteichef Lothar Bisky kannte bis vor kurzem nur Lafontaines Bücher, aber er vertraut Gregor Gysi blind. Der hat Lafontaine – und sich selbst – zum neuen Linksprojekt verführt. Den Genossen schwant jetzt schon, dass in diesem Wahlkampf noch einiges auf sie zukommt mit ihrem neuen Bündnispartner. Die SED-Nachfolgepartei als mäßigende Kraft auf einem Kreuzzug für die gute alte BRD: Vielleicht kann Gysi Lafontaine wenigstens vermitteln, dass das eigentlich ein ziemlich guter Witz ist.