: Grönland-Eis droht zu kippen
Ein Teil des Eisschilds hat sich nach neuen Untersuchungen bereits destabilisiert. Der Meeresspiegel könnte um bis zu 7 Meter steigen
Von Susanne Schwarz
Der Kipppunkt naht: Es gibt neue Indizien dafür, dass ein Teil des grönländischen Eisschilds vor dem unaufhaltbaren Schmelzen steht. „Wir haben Belege dafür gefunden, dass sich der zentral-westliche Teil des Grönland-Eisschildes destabilisiert hat“, sagte Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und der Freien Universität Berlin. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es in der Zukunft zu einem deutlich verstärkten Abschmelzen kommen wird – was sehr besorgniserregend ist.“
Warum ist das Schmelzen der Gletscher ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu bremsen? Das liegt unter anderem daran, dass Bergspitzen kälter sind als Bergfüße. Schrumpfen die Gletscher in wärmere Höhen, verstärkt sich das Schmelzen also irgendwann selbst.
Klimamodelle können bisher noch nicht ganz genau prognostizieren, wann dieser Punkt erreicht sein wird, denn es gibt auch gegenläufige Effekte. Sie sehen die kritische Schwelle innerhalb einer Temperaturspanne von 0,8 bis 3,2 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Zum Vergleich: Schon jetzt hat sich die Erde demgegenüber um mehr als ein Grad aufgeheizt.
Würde das gesamte grönländische Eis schmelzen, könnte allein das laut dem PIK zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 7 Meter führen. Zudem könne der warme Nordatlantikstrom schlappmachen, die Verlängerung des Golfstroms. Anders als dieser wird der Nordatlantikstrom nicht von Winden angetrieben, sondern wird von Dichteunterschieden der Wassermassen. Dieses System kann das Süßwasser des Eisschilds durcheinander bringen, wenn es in den Ozean hineinschmilzt. Das hätte massive Auswirkungen auf das Klima in Europa und Nordamerika, denn das Ausbleiben der warmen Strömung käme einem Heizungsausfall gleich; die Regionen würden sich abkühlen. Das ist allerdings nicht für die nächste Zeit zu erwarten. Selbst wenn der Grönland-Eisschild seinen Kipppunkt erreicht, dauert das gesamte Schmelzen wahrscheinlich Jahrhunderte oder – je nach Klimaschutzerfolg – gar Jahrtausende.
Theoretisch wäre der Prozess auch jenseits des Kipppunkts noch zu stoppen, wenn sich die Erde nämlich so stark abkühlen würde, dass die Temperaturen global gesehen unter dem vorindustriellen Niveau liegen. Einen praktischen Wert dürfte diese Erkenntnis kaum haben. Mit dem Pariser Weltklimaabkommen haben die Regierungen sich zum Ziel gesetzt, den Prozess bei „deutlich unter“ zwei Grad, möglichst aber bei 1,5 Grad aufzuhalten. Das liegt in weiter Ferne. Das Projekt Climate Action Tracker, an dem die Denkfabriken New Climate Institute und Climate Analytics zusammenarbeiten, hat den globalen Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100 anhand der bisherigen weltweiten Klimaschutzmaßnahmen prognostiziert. Das Ergebnis: Zu erwarten ist derzeit eine Erderhitzung von 2,9 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen