: Wer wäre ich?
„Vom Umtausch ausgeschlossen“, ein surreales Spiel von Menschen und Puppen im Theater Thikwa
Von Katrin Bettina Müller
Es ist mal wieder Zeit für Christian Morgenstern: „Ein Knie geht einsam durch die Welt / Es ist ein Knie sonst nichts / Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt! / Es ist ein Knie sonst nichts. // Im Kriege ward einmal ein Mann / erschossen um und um. / Das Knie allein blieb unverletzt – / Als wärs ein Heiligtum.“ Von einsamen Beinen, die auf der Suche nach einem Torso durch die Welt irren, aber auch von dreibeinigen Prothesen, die sehr geeignet zum Klettern über Zäune sein sollen, erzählt das höchst seltsame Bildertheater „Vom Umtausch ausgeschlossen“. Es ist die neueste Produktion des Thikwa Theaters, die Ende Mai im Stream zur Premiere kam und jetzt live gespielt wird.
Im Thikwa Theater spielen nichtbehinderte Darsteller:innen mit behinderten Künstler:innen zusammen, seit 1990. In vielen Produktionen ist ein kritischer Umgang mit der sozialen Produktion von Behinderung ein Thema, vor allem aber sucht das Thikwa immer wieder nach ästhetischen Formen, die den Blick auf Behinderung, Nichtbehinderung verändern und die Grenzen dazwischen zur Disposition stellen. Diesmal hat die Gastregisseurin und Puppenspielerin Martina Courturier dafür einen Rahmen gewählt, der sehr an die Kunst des Surrealismus und an Dada erinnert.
Wände verschieben sich und legen für kurze Szenen Bildausschnitte frei. Ein Zug von Walzertanzenden zieht hindurch, aber von der zweiten Person im Tanz gibt es eigentlich nur eine künstliche Hand oder einen Arm, der auf der Schulter des Partners ruht. Ein Puppentorso mimt ein Gesicht, die Brüste dienen als Augen, und singt mit bewegtem Brustkasten „Dancing Cheek to Cheek“. Drei Männer knabbern an künstlichen Händen wie an Hühnerbeinen. Köpfe ohne Körper drehen sich in drei Bildfenstern, während in einem vierten eine Hand eine Drehorgelkurbel bedient.
Viele solcher durchaus auch makabren Miniaturen bilden Puzzleteilchen von Situationen, die mehr angedeutet als auserzählt werden. Das Erstaunliche ist, dass man mehr sieht, als zu sehen ist; dass die Vorstellungskraft stets bereit ist, die Lücken zwischen den einzelnen (Körper- und anderen)Teilen zu füllen; dass man dem singenden Torso zum Beispiel die Leidenschaft bei seinem Gesang abnimmt.
So ist „Vom Umtausch ausgeschlossen“ ein Spiel über die Relativität dessen, was wir als vollständig oder normal wahrnehmen, was ins Auge fällt und was das Hirn einfach hinzufügt. Dazu kommen unterschiedliche Texte aus dem Off. Teils sind es kurze Ansagen aus der dinglichen Welt der Waren, mit ihren Normen und Standards, in der jede Abweichung als Fehler gilt. Teils spricht eine Stimme von einer rätselhaften Position aus, als ob eine Figur über ihre Existenzmöglichkeiten nachdenke, bevor sie zu sein beginnt: „Wohin ginge ich, wenn ich gehen könnte. Wer wäre ich, wenn ich sein könnte.“ Damit schiebt sich die Atmosphäre des Stücks weiter in einen Möglichkeitsraum.
Unten den Akteuren bewegt sich die Jazzsängerin Mette Nadja Hansen, der Musiker Klaus Janek sitzt mit Kontrabass am Rand. Ihre Musik fügt den Bildern etwas Intimes, Zärtliches und Melancholisches hinzu, manchmal auch Sehnsucht nach Ferne. Wenn alle zusammenkommen, wie einmal für ein Familienfoto, sieht man sieben Menschen und eine Puppe oder vier Frauen und vier Männer, aber nie x behinderte und y nichtbehinderte Spieler.
4. und 5. Juni live im Theater Thikwa, 20 Uhr
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