: Fokus und Schärfe
Wie selbstverständlich übernimmt Thomas Müller wieder eine Führungsrolle in der Fußball-Nationalmannschaft
Aus Seefeld Maik Rosner
Schon im Training sind die Rollen klar verteilt. Dass Thomas Müller eine Hauptrolle zugedacht ist, lässt sich nicht überhören. Immer wieder hallt seine Stimme über den Trainingsplatz der deutschen Nationalmannschaft unterhalb der beiden Skisprungschanzen in Seefeld/Tirol. Später, im Trainingsspiel auf dem Großfeld, ruft Müller scherzhaft nach einem weiten Schlag ins leere Tor von Gladbachs Jonas Hofmann: „Nein, kein Tor, ganz ehrlich.“
„Ich will schon ein Katalysator sein, der den Turbo der Mannschaft so ein bisschen zünden kann“, sagt Müller am Sonntag auf der Pressekonferenz und spricht über seine Hoffnung, „dass ich bei meinen Mitspielern noch was rauskitzeln kann“. Er freue sich zudem über die erhaltene Chance und „eine gute Stimmung im Umfeld“. Es ist nicht gerade wenig, was sich der Rückkehrer Müller für die EM vorgenommen hat.
Joachim Löw gefällt Müllers Omnipräsenz – solange sie niemanden erdrückt. Als Leitfigur und Stimmungsmacher hat der Bundestrainer den 31 Jahre alten Offenspieler vom FC Bayern nach dessen Ausbootung im März 2019 in den 26 Spieler umfassenden EM-Kader zurückgeholt. Ebenso wie Borussia Dortmunds Innenverteidiger Mats Hummels, 32, der zwar nicht so laut auftritt, aber die Defensive mit seiner Routine stabilisieren kann. Es sei, „als wären sie nie weg gewesen“, sagt Löw und spricht von ihrer „Führungsrolle“. Er sagt: „Beide sind auch in ihren Vereinen Leute, die den Ton angeben.“ Das, betont Löw, „ist auch das, was wir von ihnen erwarten“.
Löw deutet an, dass er neben Hummels mit Antonio Rüdiger vom Champions-League-Sieger FC Chelsea plant. Er sagt ohne Umschweife, dass Konkurrent Niklas Süle an seiner Fitness arbeiten müsse und er ihn nicht als möglichen Rechtsverteidiger sehe. Löw hat auch schon festgelegt, wo Müller spielen soll: In jener zentralen Rolle, in der er beim FC Bayern zuletzt seine vielleicht besten anderthalb Jahre der Karriere erlebte: als offensiver Freigeist, Antreiber, gedankenschneller Vorbereiter und Torschütze. Müller werde „eher zentral oder im Halbraum spielen, aber nicht auf der rechten Außenbahn“, sagt Löw. Zudem betont er die Bedeutung der Defensive und Standards, Letztere seien „total ausbaufähig“. Es sind Themen, die der Bundestrainer mit dem Faible fürs feinfüßige Offensivspiel nie gerne verfolgt hat. Nun aber sagt er auch wegen der Gruppengegner – Weltmeister Frankreich (15. Juni), Europameister Portugal (19. Juni) sowie Ungarn (23. Juni) – liege das „Hauptaugenmerk“ darauf, „dass wir in der Defensive stabiler werden“. Das Zweikampfverhalten sowie die Konsequenz in Offensive und Defensive, das seien „Schlüsseldinge“. Es ist zu spüren: Alles, was hinter ihm und der Nationalmannschaft liegt, ob das Vorrunden-Aus bei der WM 2018 in Russland als selbstgefälliger Titelverteidiger oder danach die ähnlich blamablen Niederlagen gegen Spanien (0:6) oder Nordmazedonien (1:2), das alles will der Bundestrainer nun auch wirklich hinter sich lassen.
Er hat sich und seinem Team eine überzeugende EM am Ende seiner 15-jährigen Amtszeit fest zum Ziel gesetzt, ehe Flick übernimmt. Die vielen Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten dieses paneuropäischen Turniers während der Pandemie sieht Löw natürlich. Doch er will Fokus, Schärfe und Pragmatismus in jenen Bereichen dagegensetzen, die er beeinflussen kann. Das ist im Training zu spüren, wenn er immer wieder energisch reinruft. Wie zu Sané: „Leroy, bleib auf deiner Seite, hey!“ Oder zu Süle: „Niki, Körper!“ Und es war schon zuvor zu vernehmen, als Löw auf seiner einführenden Pressekonferenz ausgiebig über die Gewinnermentalität referierte. Das Thema war ihm so wichtig, dass er von sich aus noch einmal darauf einging, als Pressesprecher Jens Grittner schon zur nächsten Frage überleiten wollte.
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