Homosexuelle Pflegeeltern: Ein neues Zuhause bei Mami und Mama
Jan und Paul haben drei Mütter. Die Zwillinge leben bei einem lesbischen Paar, weil ihre leibliche Mutter überfordert war. Für homosexuelle Paare ist eine Pflegschaft oft die einzige Möglichkeit, Kinder aufzuziehen.
"Nein" hallt es durch die große Wohnküche. Die Zweijährigen Jan* und Paul* streiten lautstark auf dem Küchenboden, das von beiden begehrte Objekt ist ein kleiner roter Ball. Die beiden Mütter versuchen zu schlichten. In der Ecke döst Mischlingshündin Nantje vor sich hin, an den nachmittäglichen Familientrubel hat sie sich inzwischen gewöhnt. "Nein" ist das Wort, das in dem orangefarbenen Eigenheim wahrscheinlich am häufigsten fällt. Mal ist es ein leises, mal ein lautes, fast scharfes Nein, das klare Grenzen setzt. Die testen die Jungen ständig aus.
Jan und Paul sind Zwillinge - und haben drei Mütter. Ihre leibliche war mit der Versorgung der Jungen so überfordert, dass sie zustimmte, dass die Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen. Seit anderthalb Jahren leben Jan und Paul bei ihren Pflegemüttern Ute von Oertzen Becker und Ulrike Reiher, bei Mami und Mama.
Nur wenige Tage, nachdem die Zwillinge in das Haus des lesbischen Paares in einer Karlshorster Wohnsiedlung eingezogen waren, stellte Ulrike Reiher fest, dass sie schwanger war. Jahrelang hatten die Frauen alles versucht, um ein leibliches Kind zu bekommen. Deshalb ist es für sie immer noch ein Wunder, dass in der Küche auch der elf Monate alte Johann im Kinderstuhl sitzt, große Augen macht und zwischen den schreienden Pflegekindern selig an einem Brötchen kaut.
Eine große Familie wollte das Paar immer schon. "Jetzt haben wir die Zwillinge und den kleinen Kullerkeks noch dazu", sagt Ute von Oertzen Becker. Die 41-Jährige, eine drahtige kurzhaarige Frau mit viel Silberschmuck, schaukelt Johann auf dem Arm.
Lesben bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone, wenn sie versuchen, leibliche Kinder zu bekommen. Künstliche Befruchtungen sind laut einer Richtlinie der Bundesärztekammer in Deutschland nur verheirateten oder fest verpartnerten heterosexuellen Paaren gestattet. Frauen können diese rechtlichen Regelungen nur mit großem Aufwand umgehen, indem sie für Befruchtungen ins Ausland fahren oder sich einen Samenspender per Anzeige oder im Bekanntenkreis suchen. Auch Adoptionen sind homosexuellen Paaren in Deutschland nicht erlaubt. Deshalb sind Pflegschaften für Lesben, Schwule und Transgender oft die einzige Möglichkeit, mit Kindern zu leben.
In Lichtenberg sind zehn Prozent der etwa 150 Pflegeeltern homosexuelle Paare. "Klar haben einige leibliche Eltern Vorbehalte. Aber wenn sie die Pflegeeltern persönlich kennen lernen, ist das kein Problem mehr", erklärt Helga Mittag. Sie ist die Leiterin des Lichtenberger Pflegekinderdienstes Liki. Und das oft bemängelte Fehlen einer männlichen Bezugsperson bei lesbischen Eltern? "Wir überprüfen natürlich, ob es Personen des anderen Geschlechts im Umfeld gibt - aber das tun wir bei alleinerziehenden Müttern genauso", erklärt Mittag.
Bei den beiden Müttern hat die vorgeschriebene Überprüfung neun Monate gedauert. "Es ging auch so lange, weil wir uns mit der Entscheidung Zeit gelassen haben", erzählt Ulrike Reiher in der Küche. Die 39-Jährige mit den halblangen, dunkelblonden Haaren lässt sich nicht aus der Ruhe bringen von dem Geschrei, das durch die offene Terrassentür hereindringt. Im angrenzenden Garten streiten die Jungs, diesmal um ein Bobbycar.
In den Vorgesprächen mit der Sozialarbeiterin mussten beide Frauen auch über ihre eigene Kindheit und das Verhältnis zu ihren Familien sprechen und angeben, welche Kinder für sie nicht infrage kommen. Blöd klinge das, wirft die andere Mutter von der Terrassentür aus ein, aber sie hätten kein schwarzes Kind aufnehmen wollen: "Ein farbiges Kind mit zwei Müttern in Lichtenberg, das für seine Naziszene bekannt ist, das haben wir uns nicht zugetraut." Die beiden Frauen leben seit drei Jahren in der Eigenheimsiedlung. "Alle reagieren bisher positiv auf uns und die Kinder, auch die Nachbarn", sagt Oertzen Becker.
Wie viele andere Pflegekinder hatten auch Jan und Paul einen schwierigen Start ins Leben. Sie waren Frühchen; warum Jan im Mutterleib hatte aufgehört zu wachsen, weiß man nicht. Noch heute sieht der schmächtige Junge mit dem ovalen Gesicht viel jünger aus als sein kräftigerer Bruder mit dem blonden Lockenkopf. Mehrmals waren sie nach der Geburt wegen Unterernährung im Krankenhaus, das schließlich das Jugendamt einschaltete.
Die beiden Frauen waren vorbereitet auf Schwierigkeiten, sie wussten, dass Pflegekinder besondere Aufmerksamkeit brauchen. Womit sie nicht gerechnet hatten, war die "negative Zwillingsdynamik", wie die Mütter es nennen. Die Jungen seien so bezogen aufeinander, dass sie sich zusammen kaum konzentrieren könnten und ständig stritten.
Bereut haben die Pflegemütter den Schritt nie. Aber Krisen gab es, die größte im vergangenen Winter. Die Ärzte hatten bei beiden Jungen eine Entwicklungsverzögerung festgestellt und den Müttern prophezeit, dass Jan vielleicht nie einen Schulabschluss schaffen würde. "Das war total schlimm. Aber jetzt vertrauen wir wieder unser Bauchgefühl", sagt Ulrike Reiher. "Sie sollen nicht Einstein werden, sondern ein selbstbestimmtes Leben führen." Die Jungen lernen langsamer als andere, sie können nicht so gut sprechen wie ihre Altersgenossen. Aber sie machen Fortschritte, laufen nicht mehr ständig weg, wie in der Anfangszeit, sobald die Frauen sie von der Hand ließen. Fortschritte, die entschädigen für die schwierigen Momente.
Auf dem Tisch liegt eine lange Einkaufsliste, und die müden Augen der beiden Frauen verraten ihre langen, anstrengenden Tage und kurzen Nächte. Ute von Oertzen Beckers Tag beginnt morgens um 4.45 Uhr: Mit dem Hund raus, Frühstück vorbereiten, um 6 Uhr fährt die S-Bahn zur Arbeit. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin arbeitet als Beamtin beim Bundeswirtschaftministerium. Ihre Partnerin ist in Elternzeit und wird erst im nächsten Jahr wieder als Juristin arbeiten.
"Ohne unsere Eltern und Geschwister hätten wir es nicht geschafft", sagt Ulrike Reiher. Die holen die Jungen ab und zu aus der Kita ab oder passen abends auf, etwa wenn die beiden Frauen zu den Treffen mit anderen Pflegeeltern gehen. Und die Großeltern nehmen die Zwillinge auch mal übers Wochenende, damit die Frauen mit Hund und Baby ins Brandenburgische zur Erholung fahren können.
Emotional spüren die Frauen keinen Unterschied zwischen Johann und den Zwillingen. "Klar schweißt eine Geburt zusammen. Aber wenn ich die Zwillinge nicht genauso lieben würde, würde ich mir den Stress niemals antun", sagt Reiher. Bei den Überlegungen, Pflegemutter zu werden, war ihre größte Angst, dass sie auf die leibliche Mutter eifersüchtig sein könnte. "Jetzt ist es eher traurig, dass sie so wenig Interesse zeigt; für die Kinder wäre es wichtig", sagt sie. Zu den vereinbarten monatlichen Treffen der Zwillinge mit ihrer Mutter sei sie in diesem Jahr erst einmal gekommen.
Wie alle Pflegeeltern müssen die Frauen mit der sogenannten "Rückkehroption" der Kinder zu ihren leiblichen Eltern leben. Aber da die leibliche Mutter so wenig Interesse an den Zwillingen zeigt und der Vater bisher noch nie in Erscheinung getreten ist, scheint es unwahrscheinlich, dass die Kinder jemals zurückkehren - da sind sich die Mütter ziemlich sicher. Laut des Lichtenberger Pflegekinderdienstes kommt die Rückkehr eines Pflegekindes bei einer Dauerpflege so gut wie nie vor.
Es ist Zeit für's Abendessen. Mutter Eins macht klein geschnittene Brote für die Kinder, Mutter Zwei zieht den beiden Jungen Erwachsenenshirts an. Eigentlich brauchen sie die nur, wenn es Nudeln mit Tomatensoße gibt. "Gestern ohne Shirt und morgen mit, geht nicht", erklärt Ulrike Reiher und hilft Jan durch die weiten Ärmel. Die fehlenden Konstanten im ersten Lebensjahr machen die Rituale für die beiden Jungen so wichtig. "Mama!" sagt Jan vorwurfsvoll, weil sie das Lätzchen für den kleinen Johann vergessen hat.
Als alle am Tisch sitzen, die Jungen ihre Brote essen und die Mütter sich kurz zurücklehnen, wird es zum ersten Mal ruhig in der Küche. Ein Moment des Durchatmens.
* Name von der Redaktion geändert
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