Terrorama total

Die Londoner Attentäter sind ein typisch europäisches Phänomen: coole Mittelstands-Kids, die sich inszenieren wollen und müssen. Nur ihre Anleihen waren neu: fanatischer Islamismus und Terror

VON MARTIN REICHERT

Die Mitte der Gesellschaft kann der reinste Terror sein, kein Wunder also, dass die Londoner Selbstmordattentäter aus eben dieser Mitte stammen. Die Mitte der Gesellschaft? Das bedeutet in Zentraleuropa immer noch, ein Leben jenseits existenziell bedrohlicher Fragen führen zu können, und wer sich um sein täglich Brot keine Gedanken machen muss, hat Kapazitäten frei: innere Freiräume, in denen sich mitunter trübe Gedanken und apokalyptische Fantasien zu einem Gemisch verdichten, das einer explosiven Entladung harrt.

Sich in der Mitte der Gesellschaft zu befinden bedeutet eben auch, unter einer Unzahl von Optionen wählen zu können und vor allem auch zu müssen: „Was willst du denn mal mit deinem Leben anfangen?“ Junge Menschen werden mit möglichen Lebensinhalten, Ideologien und Überzeugungen konfrontiert. Angebote, die es zu prüfen, auszuprobieren und zu sortieren gilt. Der Londoner Selbstmordattentäter Sheehzad Tanweer, 22, war eigentlich ein begeisterter Cricketspieler, ein Junge von nebenan. Nach einem Aufenthalt in Pakistan ließ er sich einen „Mohammed-Bart“ wachsen, rasierte ihn wieder ab, ließ ihn wieder wachsen. Sein Onkel sagt: „Er konnte sich nicht entscheiden, was er sein wollte.“ Tanweers Experimentieren mit einem Teil seiner Identität, seinem Glauben und der Herkunft seiner Familie, seine Entscheidung für die Option „Paradies“ inklusive Huri endete nicht nur für ihn tödlich.

Wenn ich mal groß bin, werde ich islamistischer Terrorist – eine Option für die gelangweilten Kids des Mittelstands? Auf Deutschland übertragen würde das bedeuten, dass die Sicherheitsorgane demnächst auf Quertaschenträger mit Hochschulabschluss und zehn absolvierten Praktika achten müssten. Mit dem bauchfreien „Prada Meinhof“-T-Shirt in den Untergrund statt zum nächsten Praktikum nach Brüssel – eine Vision wie aus Bret Easton Ellis Roman „Glamorama“, in dem zivilisationsmüde Models Bomben in Vuitton-Taschen legen.

London hat tatsächlich eine ganz andere Dimension als der 11. September. London bedeutet, dass die Mitte der Gesellschaft aus sich selbst heraus attackiert wird. Londoner Bürger werden von Mittelstands-Kids umgebracht, die den Terror in das Repertoire ihrer jugendlichen Ausdrucksformen aufgenommen haben. Die Attentäter waren offensichtlich keine hinterwäldlerischen fanatischen Langweiler, sondern coole Kids, mit denen man vielleicht auch mal ein Bier trinken gegangen wäre. Um mal darüber zu reden, warum sie alles so Scheiße finden und Angst vor ihrem eigenen Leben haben.

Voll die fette Aktion: Mit einer Bombe im Eastpak-Rucksack in die Bahn und auf den Knopf drücken. Macht ordentlich Lärm, viel mehr Lärm, als sonst aus den Kopfhörern des MP 3-Players dringt. Schade nur, dass danach das Licht ausgeht für so viele Menschen, die Lust auf ihr Leben hatten. Ja, die Mitte der Gesellschaft kann manchmal die Hölle sein. Denn die Hölle, das sind wir selbst.