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berliner szenenUnüblich eröffnet

Eine Bewohnerin mit Maske lässt mich ins Haus und geht zu den Briefkästen, während ich in dem kleinen Fahrstuhl nach oben fahre. Ich mag den Hauskomplex der Deutschen Wohnen ganz gerne und hatte hier, bei M., auch den Aufruf wegen der Enteignung unterschrieben.

Ich klingel an seiner Wohnungstür. Aus der Wohnung hört man die Bundesligaberichterstattung des Bayrischen Rundfunks. Er könnte ja auch mal was sagen oder rufen, wenn er da ist. Ich ruf ihn an, niemand geht ran und klingel noch einmal. Endlich kommt er an die Tür und ruft verärgert, autoaggressiv: „Ich bin ein Krüppel, hetz’ mich nicht so.“ Ich frage, wie’s auf den Plätzen steht – Schalke führt. Juchhu! – und geh erst mal in die Küche, um einen Hanftee zu machen. Ich hatte den Hanftee eher zufällig vor ein paar Wochen oder Monaten gekauft, weil ich es so nett gefunden hatte, dass der kleine Teeladen offen war. Witzigerweise hatte ich zuvor noch nie Hanftee getrunken. Wir sind beide recht zufrieden mit dem Produkt, aber diesmal möchte M keinen Hanftee trinken.

Vielleicht weil er noch sauer ist oder hatte er vor meinem Besuch ein kleines Nickerchen gemacht hat und jetzt dauert es bis er wieder wach im Rollstuhl ist.

Auf seiner Ottomane liegt ein antiquarischer Bildband über die Geschichte des Schachs, den ihm einer der Pflegenden neulich zum 66. Geburtstag geschenkt hatte. Wir besprechen die Lage, wechseln zwischen Bayerischem Rundfunk, WDR und Radio Eins, weil der Ton trotz Kabel nicht richtig klar ist.

Dann spielen wir wieder Schach, drei Partien mit Rauchpausen dazwischen. Unsere Spiele sind besser geworden, vor allem ruhiger und wir kommen jedes Mal ins Endspiel. Er ärgert sich ein bisschen, weil er verloren hat; ich bin ganz stolz darauf, mit der berühmten Bongcloud, bei der man relativ früh, den König schützend vor die Dame stellt, gewonnen zu haben.

Detlef Kuhlbrodt

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