: Helene Weigel ruft aus dem Fenster
Ein Audiowalk mit Brecht und den Stimmen der Frauen, die ihm zuarbeiteten: So wird Theatergeschichte pandemietauglich erzählbar
Von Esther Slevogt
„Brecht geht zwischen den Birken geradeaus den Hauptweg entlang“, sagt die Stimme im Ohr. Man hört Schritte auf dem Weg und getragene Klaviermusik. Eine Katze miaut. Aber da ist keine Katze und auch kein Brecht. Der liegt in dem Grab, an dem man gerade vorbeiging auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. „Ein toter Mann läuft durch Berlin“, sagt die Stimme im Ohr in diesem Geisterschauspiel, das im Auftrag des Berliner Ensembles der Regisseur Bernhard Mikeska hier veranstaltet – gemeinsam mit Lothar Kittstein, der den Text dafür schrieb.
Der Geist des toten Brecht wird beschworen. Dabei leuchten Zeiten und Räume, verpasste Möglichkeiten im Leben wie in der Geschichte kurz und manchmal auch schmerzlich auf.
Dabei fing es ganz dokumentarisch an: Mit Erklärungen zu den Vorkommenden in diesem Audiowalk, der hier am Dorotheenstädtischen Friedhof beginnt. Bertolt Brecht, seine Frau Helene Weigel und drei Mitarbeiterinnen – Slash – Geliebte. Von einem Text Brechts war die Rede, der angeblich im Winter 2020 im BE gefunden wurde und der hier nun erlebbar werden soll: Brecht beschreibt, wie er von seinem Wohnhaus am Friedhof in sein Theater am nahen Schiffbauerdamm geht. Und während man noch darüber nachdenkt, ob das überhaupt sein kann, dass da im BE noch ein echter Brechttext gefunden wurde – schließlich hatte Claus Peymann, als er 1999 seine Intendanz am BE begann, alles historische Material der Akademie der Künste übergeben, steht man schon am weißen Grabstein der traurigen Ruth Berlau, Mitarbeiterin und Gefährtin Brechts, die 1974 starb. Hört Brechts Gedanken, wie er hier jetzt steht, obwohl er schon fast zwanzig Jahre vor ihr starb und sie ihn aus dem Grab zu rufen scheint.
Ruth Berlau-Lund steht auf dem Grabstein, und darunter der Name „Michel“. So hieß das gemeinsame Kind, das 1944 in der Emigration geboren wurde und nur zwei Tage lebte. Stand sein Name schon immer auf dem Grab? Irgendwie hat man das anders in Erinnerung. Ist das alles überhaupt echt hier? Da treibt die Stimme im Ohr schon wieder an weiterzugehen, halb Brecht himself, halb suggestiv sein Tun und Denken kommentierend. Keine Zeit zum Zweifeln. Man folgt dem vorgeschriebenen Weg, kommt bald an seinem Wohnhaus am Rand des Friedhofs vorbei. Auf dem Klo sitzend ruft Helene Weigel aus dem Fenster und treibt Brecht an, nicht zu spät in sein Theater zu kommen.
Draußen auf der Chausseestraße fallen in die Bilder der Gegenwart die Bilder der Vergangenheit. Bald biegt man ein auf das Gelände der Katholischen Höfe, wo Brechts Geist ein paar Sottisen murmelt. („Gebaute Lebensmüdigkeit! Gebaute Depression!“) Und überhaupt: Was machen die hier eigentlich, die Katholiken im sozialistischen Berlin? An der nächsten Ecke steht schon Isot Kilian, Brechts letzte Geliebte. „Das wohlgeformte hübsche Ding! Dem solltest du einmal unter vier Augen einige Gedichte lesen!“ Kilian: „Lassen Sie die Finger weg von meiner Hand, Herr Brecht! Im Sozialismus stecken wir die Finger schön in unsere eigene Hose.“ „Im Sozialismus gibt es keine eigenen Hosen mehr. Im Sozialismus steckt ein jeder alles, wo und wie und wann und wohin er will“, lassen Mikeska und Kittstein in liebevoller Respektlosigkeit ihren Brecht parieren.
Inzwischen ist man auf der Luisenstraße angekommen in dieser listigen Zeitreise. Dort hält Brecht einen Geldautomaten, der Geld ausspuckt für jedermann, für eine Errungenschaft des Sozialismus. Schon aber kreuzt Elisabeth Hauptmann den Weg, die nun mit Brecht darüber rechtet, dass er ihren Anteil an dem Werk, den Anteil an dem Geld, das ihr daher zusteht, vor seinem Tod wie versprochen irgendwie schriftlich verfügen soll. Aber Brecht bleibt taub für Elisabeth Hauptmann. Er ist ja längst tot und schwebt also weiter als Geist über das Trottoir.
Statt der Pappel am Karlsplatz möchte er jetzt lieber die Leihräder bedichten, die heute hier stehen. Irgendwo ruft Ruth Berlau böse vom Balkon. Brecht flieht, will sein Theater erreichen. Wenigstens zum Applaus. Und so treiben Mikeska und Kittstein ihren vergnüglichen wie melancholischen Schabernack mit dem Mythos und den Klischees, die dieser Mythos gebar. Trotzdem erschaffen sie – unterstützt von den Stimmen der BE-Schauspieler:innen Tilo Nest, Constanze Becker, Laura Balzer, Kathrin Wehlisch und Bettina Hoppe – ein Gefühl für die Schatten über den Schicksalen und nicht zuletzt auch für die verlorenen Hoffnungen, die einmal an die untergegangene DDR geknüpft waren, in die Brecht aus der Emigration zurückgekehrt war. Das letzte Bild ist so traurig wie Brechts Grab am Anfang: das leere Berliner Ensemble, wo schon lange kein Theater mehr gespielt wird.
Audiowalk „Brecht stirbt“, Besuch jederzeit zwischen 8 und 20 Uhr möglich mit eigenem Kopfhörer und eigenem Abspielgerät. Infos zum Download: www.berliner-ensemble.de/inszenierung/brecht-stirbt
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