: Das Besondere der Zeit
ZIRPEN Die Grillen feiern ein Fest. Blattschnitzel werden gereicht und Früchte von Gräsern. Dann singen sie trotz aller Verschiedenheit gemeinsam das Concerto grosso. Eine Sommergeschichte aus der Perspektive sehr kleiner Wesen
VON ROSEMARIE NÜNNING
Alle spürten das Besondere der Zeit. Die Helligkeit schien ein halbes Grillenleben zu dauern, die Dunkelheit hielt nur kurz. Und jede helle Zeit brachte mehr Wärme mit sich, die Dunkelheit kaum Kühlung. Die schwarzen Steine waren heiß, es war besser, sie zu meiden – oder sie als Grillstein zu nutzen. So wurde entschieden: Es sollte ein großes Fest gefeiert werden.
Jede Grille hatte bei den Vorbereitungen geholfen. Auch sie, die Kleine. Sie war zur Großen Weite gesprungen, die erst vor einer Weile entstanden war, nachdem eine ganze Helligkeit lang die riesigen Halmwedel unter scharfem Sirren gefällt worden waren und nun trocken und farblos lagen. An ihrem Rande hatte sie die betörend duftende Blätterinsel gefunden und die weichen, besonders schmackhaften Spitzen abgebissen und aufgehäuft, um sie dann zum Festplatz zu tragen.
Etwas unangenehm war die Auseinandersetzung mit einer Ameise gewesen, die versucht hatte, einige Stücke ihrer Blattsammlung zu rauben, um sie für die Ameisenfestung zu nutzen. Wie dumm, hatte die Kleine gezirpt, diese Kostbarkeit in einem Bau zu vergeuden, statt sie zu genießen.
Wie unwirtschaftlich, hatte die Ameise gezischt, diesen guten Stoff zu fressen.
Jetzt war es so weit. Blattschnitzel wurden auf die heißen Steine gelegt. Als Delikatesse einige der von ihr, der Kleinen, gesammelten Spitzen dazu, die sofort noch stärkeren Duft verbreiteten. Eine sehr geschickte Grille hatte Streifen verschiedener Blätter zusammengedreht und Früchte von Gräsern darübergestreut. In einer kleinen Mulde lagen Kräuter, getränkt von süßen, klebrigen Tropfen, die die Kühle – sie mochte nur kalte Speisen – von einer Rinde gesaugt hatte.
Die Kleine fühlte sich dennoch missmutig. Sie war von der Hitze erschöpft und wollte nachdenken, alleine unter einem kühlenden Blatt, an dem sich vielleicht geboren aus der Feuchte der herabfallenden Dämmerung eine Wasserkugel festgesogen hatte, von der sie hin und wieder schlecken könnte.
Nun sollte sie also mit all den anderen auf dem kahlen, schweren Boden bei dem Großen Wasser hocken oder gar im Konzert singen und den Sprungtanz tanzen, wenn das Fest seinem Höhepunkt zustrebte.
Die Steinalte – sie musste steinalt sein, denn keine war vor ihr da gewesen – wusste zu erzählen, dass es vor langer Zeit an der Stelle des Großen Wassers hohe saftige Halme und Gewächse mit gefährlichen Spitzen, so lang wie sie selbst, gegeben hatte, und manchmal einen Wasserstrom, so breit, dass sie ihn nur mit mehreren Hüpfern hätte überwinden können. Aber sie sei ja kein Wasserläufer, fügte sie hinzu. Es klingt etwas enttäuscht, dachte die Kleine. Irgendwann, sagte die Steinalte, es sei noch kühl und grau gewesen, hatte der Boden zu beben begonnen und ihre Trommelfelle seien fast geplatzt von einem nie gehörten Lärm.
Unwillkürlich rieb sie ihre Vorderbeine, als wollte sie fühlen, ob noch alle Trommelfelle vorhanden seien.
Mit den weitesten Sprüngen ihres Lebens sei sie geflüchtet und habe geschützt vom Kräuterwald gesehen, wie etwas die Erde aufgrub. Unbeschreiblich stärker als ein Pillendreher und viel, viel größer als ihre schlimmsten Feinde, die manchmal aus der Luft auf sie herabstürzten – merda!
Die Geschwätzige stopfte ein drittes Schnitzel durch ihre Beißwerkzeuge und nörgelte undeutlich, warum es keine gegrillten Raupen gebe. Die Schrille, sie hieß so wegen ihrer besonders durchdringenden Stimme, hüpfte gelangweilt zum Rand des Großen Wassers und nippte.
Die Kleine fühlte sich berauscht und schwebend, während sie nachdenklich ihre Blattspitzen verdaute, und wünschte sich, alleine mit der Steinalten zu sein, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Und die Stimmen schienen sich von ihr zu entfernen, und sie versank in die Erinnerung an eine merkwürdige Begegnung in der letzten Dunkelheit. Eine Grille, sie war kleiner gewesen als die Kleine, hatte sich ihr genähert und verlegen gefragt, wo sie denn sei. Na hier, hatte die Kleine verwundert gesagt. Es gab doch nur … Hier. Andererseits, die Kleine war durcheinandergeraten, hatte sie die Fremde vorher nie gesehen. Und sie konnte kein Nachzügler sein. Ihre letzte Häutung musste schon eine Weile zurückliegen, und ihre Hinterbeine wirkten kräftig, als sei sie viel gesprungen.
Wenn sie aber nicht von hier war, dann von wo?
Genau weiß ich es nicht, hatte die Fremde gesagt, aber es duftet anders und es gibt kein Großes Wasser. Manchmal zerre viele Zeiten ein kalter, heftiger Luftstrom an ihnen, aber sie könnten dann besonders schöne Weitsprungtänze tanzen. Es ist etwas stickig hier, hatte die Fremde eingeflochten. Dann war sie … die Fremde hatte nachgedacht … von Anderswo …
Anderswo, hallte es in den Gedanken der Kleinen wider …
Es war, hörte sie wieder die Fremde, irgendwann mitten in der Helligkeit plötzlich grau und die Luft schwer geworden und sie hatten ihren Gesang abgebrochen, um besser zu fühlen. Dann zitterte die Luft unter tiefem Dröhnen und zischte in grellem Schein und aus dem Grau fielen vielmal dicke Wasserkugeln und schrecklich kalte Körner mit scharfen Kanten, die die Blätter aufschlitzten, als hätte eine Gottesanbeterin ihre Zähne hineingeschlagen. Mon dieu – eine besonders schwere Kugel hatte ihren Fühler erwischt, sie habe immer noch leichte Schmerzen. Die Fremde zog den linken Fühler sinnend durch ihre Vorderbeine.
Weiter, hatte die Kleine gedrängt und sich sofort unhöflich gefunden. Sie vergaß sogar zu fragen, was mon dieu heiße. Und die Fremde erzählte, wie sie durch das Toben gesprungen sei, um Schutz zu finden. Plötzlich trafen sie die Wasserkugeln nicht mehr, obwohl sie ihr Trommeln noch hörte. Ein seltsamer Ort sei es gewesen, ohne Blätter und Kräuter, mit einem – sie hatte die Fühler gekrümmt – beißenden Geruch, der eine Stinkwanze erblassen ließe. Noch ehe sie einen Zirp hätte von sich geben können, sei alles in Bewegung geraten und sie musste sich festklammern, Farben und Bilder flogen an ihr vorbei, schwindelig war ihr geworden und schwach vor nagendem Hunger und Durst, und es schien kein Ende zu nehmen.
Kein Ende, hatte die Kleine gedacht, oder wohl leise getrillert, da die Fremde gereizt meinte, sie müsse ja nicht zu Ende erzählen, aber es sei auch fast alles gesagt. Als sie glaubte, ihre Füße verlören alle Kraft, hatte etwas Unbekanntes sie erfasst und plötzlich sei sie wieder von dem Atem frischer Nahrung in einem Halmwald umgeben gewesen, endete sie mit einem erleichterten Seufzer.
Die Kleine konnte mit ihr fühlen, wie wunderbar es gewesen war, wieder zu fressen und von dem Saft der Blätter zu saugen – obwohl, ergänzte die Fremde, alles schwerer schmeckte als dort, wo sie den Weitsprungtanz getanzt hatten. Ich will mich jetzt hier umsehen, hatte sie dann gezirpt.
Anderswo?, hatte die Kleine eingeworfen. Vielleicht so, antwortete die Fremde leichthin und war zur Großen Weite gesprungen. Komm doch morgen zum Fest, hatte die Kleine ihr noch aufgeregt nachgerufen, aber die Fremde war schon zu weit fort.
… prima, drang es laut an ihr Trommelfell. Die Kleine schreckte zusammen und kam aus ihrer Erinnerung zurück. Es war die Stimme der Schrillen gewesen.
Was ist prima, fragte die Kleine neugierig, aber auch schuldbewusst, weil sie nichts mehr wahrgenommen hatte. Sie fühlte sich kaum noch berauscht, aber schrecklich durstig.
Du hast wohl wieder nicht zugehört, schrillte die Schrille. Nicht zugehört, wiederholte die Geschwätzige träge. Warum zuhören, dachte die Steinalte. Immer zuhören, schien eine leise Klage aus der Richtung der Geschickten zu kommen, aber vielleicht war es nur ein Knistern auf dem Grillstein gewesen. Ich … habe gedacht, traute sich die Kleine kaum zu sagen. Gedacht?!, schrillte es zurück.
Nachgedacht, die Kleine zögerte, über … Anderswo.
Anderswo?! Was ist das?, fragte die Schrille mit schnippischem Unterton, da sie nicht verstand. Das ist ... Sollte sie es wirklich sagen? Das ist ... nicht Hier, die Kleine hauchte es zaghaft.
Die Schrille verschluckte sich vor Lachen, sie hatte gerade ein paar Kräuter in ihr Maul gestopft. Auch die Geschwätzige brach in Kichern aus, obwohl sie ihren mit vielen Blattschnitzeln vollgestopften Bauch kaum zwischen ihren Beinen über dem Boden halten konnte.
Die Kühle schwieg missbilligend, weil sie schrilles Lachen nicht ertragen konnte.
Die Steinalte wiegte sich im Takt eines Grillangos, dessen Klänge nur sie fühlte, und sagte, als sei ihr eingefallen, dass sie ihre Geschichte noch nicht zu Ende erzählt hatte: Erst lange nachdem der Lärm vergangen war, traute ich mich nachzusehen. Dort, wo etwas die Erde aufgegraben hatte, war ein unübersehbarer Abgrund und irgendwann hat er sich in das Große Wasser verwandelt, an dem sie nun hockten.
Dann richtete die Steinalte ihre Vorderflügel auf und stimmte mit tiefem Ton das Concerto grosso an. Die Schrille fiel mit plötzlich weicher, wunderschöner Stimme ein und die anderen, die staunend und schweigend alles verfolgt hatten, säuselten das Echo. Es war nicht einfach ein großes Konzert, sondern das Größte, das sie nur in der heißesten Zeit zum Höhepunkt eines Festes sangen.
Die Kleine jedoch eilte zum Wasser und trank und trank, obwohl sie sonst Trinken langweilig fand. Und dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem eigenen Anderswo.