: Nur die Straße bleibt ihnen noch
Tausende Demonstrant*innen fordern quer durch Russland Rechte ein – für den Kremlkritiker Alexei Nawalny, aber auch für sich selbst. Sie wissen, was sie riskieren. Denn der Staat schreckt vor nichts zurück
Aus Moskau Inna Hartwich
„Familie, Freundschaft, gegenseitige Unterstützung, Barmherzigkeit und Zusammenhalt machen uns stark“, sagt Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau vor den beiden Kammern des Parlaments. Derweil nimmt die Polizei in Irkutsk in Sibirien acht Demonstranten fest. Sie lässt Unterführungen in Tscheljabinsk am Ural absperren, sie durchsucht Büros der Anhänger*innen des inhaftierten und hungerstreikenden Alexei Nawalny in Jekaterinburg – ebenfalls am Ural. Barmherzigkeit gilt nicht für alle im Land.
Die Demonstrant*innen – in der russischen Hauptstadt gehen die Menschen erst am Mittwochabend auf die Straße – fordern aber gar keine Milde. Sie fordern ihre Rechte ein. Vor allem aber das Recht auf medizinische Versorgung für einen, der für die Überzeugungen vieler in Russland, sein Leben riskiert.
Seit Wochen klagt der nach einem Anschlag mit dem verbotenen Nervengift Nowitschok in Deutschland behandelte und nach Russland zurückgekehrte und hier sogleich festgenommene und verurteilte Nawalny über Schmerzen im Rücken, die in seine Beine und Arme ausstrahlten. Ärzt*innen seines Vertrauens sollen ihn behandeln. Nach russischem Gesetz steht einem Inhaftierten eine solche Möglichkeit zu.
Im Fall Nawalny aber bleiben die Mediziner*innen bislang draußen. Die Strafvollzugsbehörde lässt sie nicht hinein, weder in die Strafkolonie von Pokrow, in der Nawalny seine zweieinhalbjährige Strafe absitzt, noch auf die Krankenstation eines Gefängniskrankenhauses in Wladimir, in das Nawalny nach Angaben der Strafvollzugsbehörde am Sonntag verlegt worden ist. Laut seinen Anwälten bekommt er dort eine Vitamintherapie. Für die Gefängnisärzte ist der Zustand des Patienten „zufriedenstellend“. Die Laborwerte, die Nawalnys Familie vorliegen, zeigen hingegen viel zu niedrige Kalium- und Kreatininwerte, was auf die Möglichkeit von Nierenversagen und Herzrhythmusstörungen deutet. „Unser Patient kann jede Minute sterben“, sagt sein Kardiologe. Mehrere Dutzend Russ*innen sind aus Solidarität zum 44-Jährigen ebenfalls in einen Hungerstreik getreten.
Nawalny selbst lässt über seinen Instagram-Account kurze Texte verbreiten, in denen er sich witzig zu geben versucht. „Ich wäre gut geeignet, um Kindern, die nicht essen wollen, mit Schauergeschichten Angst einzujagen: Mascha, Kleines, wenn du deinen Brei nicht aufisst, wirst du wie dieser Onkel da aussehen, mit riesigen Ohren und eingefallenen Augen. Nein, Mama, ich werde alles aufessen und um Nachschlag bitten“, heißt es da. Er bezeichnet sich als „schwankendes Skelett in der Zelle“. Der Humor ist ihm geblieben, für seine Rechte setzen sich quer durch die Welt nun andere ein.
Internationale Prominente schreiben Briefe an Putin, russische Regionalabgeordnete fordern Nawalnys Behandlung ein. „Hinter Gittern ist der Mensch, der krank ist und ausgemergelt, in dreifacher Weise verletzlich: Nicht nur seine Menschenwürde ist bedroht, sondern auch seine Gesundheit. Einfach sein Leben“, schreibt die russische Journalistin Katerina Gordejewa und nennt das Vorgehen gegen Nawalny ein „echtes humanitäres Verbrechen“. Der international bekannte russische Regisseur Andrei Swjaginzew sieht die totale Abwesenheit eines Staats, der eigentlich ein Garant fürs Leben sein sollte.
Der Staat aber setzt auf die Zerschlagung aller Strukturen, die hinterfragen, was er tut. Deshalb sehen viele ihren Schritt auf die Straße als den letzten, einzig möglichen, für die Rechte Nawalnys und auch ihre eigenen Rechte zu kämpfen. Sie tun das in vollem Bewusstsein, im Gefangenentransporter zu landen.
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