: Das Gegenteil von Monokultur
Seit drei Generationen wächst in Ostholstein ein Dauerwald. Die Bäume stehen dort nicht nur länger als anderswo, sie weisen auch eine größere Vielfalt auf: Bis zu 30 Arten kommen auf einen Hektar. Ein Spaziergang mit dem Förster Ulf Köhn und dem Waldbesitzer Christian Herzog von Oldenburg
Aus Kasseedorf Esther Geißlinger
Der zauberhafteste Punkt im Wald von Kasseedorf ist nicht die 100-jährige Douglasie mit ihrem wuchtigen Stamm, den der Waldbesitzer und sein Förster Gästen so gern zeigen. Es ist auch nicht die alte Buche, deren Wurzeln aussehen wie eine Zeichnung in einem Märchenbuch. Der zauberhafteste Punkt in diesem Wald ist auch nicht die Schlucht mit dem Bächlein darin oder der gewundene Pfad, der im 19. Jahrhundert angelegt wurde, um der herzoglichen Familie wild-romantische Ausblicke zu bieten. Um den zauberhaftesten Punkt in diesem 1.000 Hektar großen Gebiet zu finden, muss man den Wald so kennen, wie Ulf Köhn es tut.
Köhn ist ein schmaler Mann, der beim Sprechen mit der rechten Hand gestikuliert. Wenn er etwas sagt, dass ihm wichtig ist, leuchten seine braunen Augen unter dem Försterhut. Mit ihm durch den Wald zu gehen, dauert lange, weil er so viel zu zeigen hat. An einem sanften Abhang bleibt Köhn wieder stehen: „Dort.“ Was er meint, ist nur von diesem Punkt zu sehen: im Hintergrund zwei Fichten, eng nebeneinander wie ein Liebespaar, vorn eine schiefe Buche, dazwischen eine Eiche, eine Birke. Keiner der Bäume ist perfekt gewachsen, aber gemeinsam bilden sie ein perfektes Ensemble. „Das ist Waldästhetik“, sagt Köhn. „Das Tolle ist: Das habe nicht nur ich gesehen und stehen lassen, sondern schon mehrere Förstergenerationen vor mir. Und die Besitzer waren einverstanden.“ Christian von Oldenburg steht daneben und nickt.
Weil Bäume so viel älter werden als Menschen, ist Försterei ein Mehr-Generationen-Projekt. Der Grund, warum Ulf Köhn und Christian von Oldenburg seit einigen Jahren regelmäßig Politiker*innen, Forstexpert*innen, Schüler*innen und Journalist*innen durch den Kasseedorfer Wald führen, liegt darin, dass ihre Großväter vor rund 75 Jahren einiges richtig gemacht haben. Denn nicht nur die Familie von Oldenburg, auch die des Försters ist seit Jahrzehnten für diesen Wald zuständig. Ulf Köhn, heute 57, deutet auf einige Stämme: „Die haben mein Bruder und ich mit unserem Vater gepflanzt.“ Sein Bruder hat eine Lehre im Forstbetrieb gemacht und leitet nun ein benachbartes Revier, Ulf Köhn hat studiert und ist in die Heimat zurückgekehrt, um ebenfalls in die Fußstapfen des Vaters zu treten.
„Dauerwald“ heißt das Prinzip, das die Großväter begonnen und folgende Generationen beibehalten haben, auch gegen Widerstände. Das Konzept entstand in den 1920er-Jahren, einer der Pioniere hieß Hans von Arnswaldt, Ulf Köhns Großvater war dessen Mitarbeiter. Beide flohen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mecklenburg nach Schleswig-Holstein und überredeten Christian von Oldenburgs Großvater zu einem Experiment: Wie alle Wälder in Deutschland musste auch der herzogliche Forst ein Drittel seiner Bestände als Reparationszahlung abgeben. Doch statt einzelne Flächen kahl zu schlagen, wurde der gesamte Bestand ausgedünnt, aber dafür der Wald erhalten. „Das war ein bisschen Roulette“, sagt Christian von Oldenburg. Ein schwerer Sturm hätte alles gefährdet. Aber der Sturm blieb aus, der Wald konnte sich entwickeln. Heute gehören die oldenburgischen Forste der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft an, einer Gruppe von – überwiegend – privaten Besitzer*innen, die sich einer schonenden Bewirtschaftung verschrieben haben.
„Als ich 15 Jahre alt war, hatten wir Forst-Experten zu Besuch, und alle sagten übereinstimmend, das Konzept gehe hier nicht“, sagt von Oldenburg. Da er heute 66 Jahre alt ist, liegt dieses Ereignis mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Er ist froh, dass damals niemand auf die Experten hörte: „Früher galten wir als Idealisten, als Randgruppe.“ Während seines Wirtschaftsstudiums habe er auch Vorlesungen zu Försterei gehört: „Niemand hat da von naturnah gesprochen, und wenn ich vom Dauerwald erzählt habe, war ich der grüne Spinner.“ Er macht eine kurze Pause, bevor er zusammenfasst: „Heute sind wir da, wo andere gern hin wollen.“
Ulf Köhn, Förster
Drei Forstreviere, jedes um 1.000 Hektar groß, gehören zur Herzoglich Oldenburgischen Verwaltung. Christian von Oldenburg führt den Betrieb seit den 1990er-Jahren, vorher teilte er sich die Aufgaben mit seinem Vater. Die Fläche bei Kasseedorf, das im Kreis Ostholstein zwischen den Seen und Hügeln der Holsteinischen Schweiz liegt, gehört seit 1780 zum Besitz. Damals wurde der Bereich als Acker und Weidefläche genutzt. Was hier heute wächst, ist angelegt worden, um Holz zu ernten.
Das soll „nachhaltend“ passieren, diesen Begriff prägte Hans Carl von Carlowitz, der mit „Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht“ im Jahr 1713 einen ersten Leitfaden der Försterei schuf. Nachhaltig wirtschaften bedeutet, nicht mehr Bäume zu schlagen, als nachwachsen können. So bleibt das Gleichgewicht erhalten – wenn alles gut geht. Geht etwas schief, etwa weil ein Sturm, Borkenkäfer, der Klimawandel oder alles gleichzeitig über einen Wald hereinbrechen, der seit Jahrzehnten gerade so eben im Gleichgewicht gehalten wird, stehen nur noch tote Stämme da.
In vielen Wäldern Deutschlands ist das zurzeit zu besichtigen, und auch der Kasseedorfer Forst leide unter dem Klimawandel, sagt von Oldenburg: „Die Ulme ist schon weg, die Esche stirbt uns unter den Händen, die Eiche wird von Fress-Gesellschaften bedroht.“
Dennoch gehe es diesem Wald und den benachbarten Revieren besser als anderen Flächen, und das solle auch so bleiben, sagt Köhn: „Dieser Wald ist mir anvertraut, und ich will ihn wertvoller übergeben, als ich ihn erhalten habe.“
Von der Politik wünschen sich die beiden wenig. Bei einem Landeswaldgipfel der CDU Schleswig-Holstein wurde die Idee einer Stilllege-Prämie entwickelt, um im Holz CO2 zu speichern. Für den Kasseedorfer Wald, in dem die Bäume ohnehin länger als anderswo stehen, wäre das nicht so wichtig, für andere „könnte das als Angebot interessant sein“, meint Köhn. Wichtiger wäre ihm, dass die Verkehrssicherungspflichten verändert werden. Er deutet auf eine alte Buche, die abgestorbene Äste über den Weg reckt. „Spaziergänge sind erlaubt, aber wenn ein Sportverein ein Lauffest machen will, muss ich ablehnen – ich müsste erst die Äste wegnehmen, die herunterfallen könnten. Das kann doch nicht sein.“ Naturgemäß wirtschaften heißt, manche Bäume alt werden und sterben zu lassen.
Anders als in Monokultur-Wäldern, in denen die Stämme wie Soldaten aufgereiht dastehen – gleich hoch, gleich dick, gleich gerade – und die gemeinsam geschlagen werden, wenn sie reif sind, bleibt der Dauerwald bestehen, nur einzelne Bäume werden entnommen. Das Ziel ist wertvolles, nicht schnelles Holz. „Mein Produkt ist nicht Holz, sondern meine Produkte sind der Baum und der Wald.“ Köhn zeigt auf eine Linde. „Daraus kann man Buntstifte machen, aber die Firmen lachen, wenn ich mit einem Stamm ankomme.“ Also wächst die Linde weiter, bis jemand ein besonderes Möbelstück oder ein Kunstwerk aus ihr machen will.
Diese Art der Wirtschaft ist aufwendig. Die herzogliche Verwaltung leistet sich verhältnismäßig kleine Reviere, und der Förster treibt großen Aufwand: „Ich kenne hier jeden Baum, und ich gehe jedes Jahr mindestens einmal zu jedem und frage ihn, wie es ihm geht.“ Er lacht: „Und die Leute sagen, ach, da macht der Förster mal wieder einen Spaziergang.“
Der Spaziergang führt durch lichtere Regionen, in denen vor allem Fichten stehen, und dichtere Bereiche mit Buchen – der Baum, der ohne menschlichen Einfluss im Norden vorherrschen würde. Doch in allen Bereichen sind die Bestände gemischt: ein paar Birken, ein bisschen Ahorn, eine Tanne, Stieleiche, Roteiche. Bis zu 30 verschiedene Arten stehen auf einem Hektar, sagt Köhn. Das ist ein Mehrfaches dessen, was in anderen Wäldern üblich oder auch nur geplant ist. So kündigte Tim Scherer, der Direktor der auf wirtschaftlichen Erfolg getrimmten Landesforsten Schleswig-Holstein, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa an, künftig sollten „drei bis fünf Baumarten auf einer Fläche wachsen“. Im Gegensatz zu einer Monokultur ist das eine Verbesserung, ein dichter, gesunder Wald ist das noch nicht.
Hinzu kommt die Frage, welche Arten künftig in die Wälder einziehen sollen: Heimische Sorten wie Buchen und Stieleichen oder solche, die an Hitze und Trockenheit gewöhnt sind? Die Politik und viele Forsten setzen angesichts des Klimawandels auf diese „Anpassung“. Ein oft genanntes Beispiel ist die Douglasie als Ersatz für die Fichte.
Eine der größten Douglasien im Kasseedorfer Revier steht auf einem Hügel. Ihr Stamm hat einen Umfang von mehreren Metern, die Spitze ist kaum zu sehen. Köhn fährt mit der Hand über die rissige Rinde: „Das ist eigentlich noch ein Teenager.“ Douglasien können ein Jahrtausend alt werden, dieser Baum bringt es auf 100 Jahre. „Der ist doch toll, oder?“, fragt Köhn. Seit dem 19. Jahrhundert werden die Nadelgewächse, die aus den USA und Kanada stammen, in Deutschland gepflanzt, ihr Holz ist stabil und hält lange. „Wir haben lange Erfahrung mit der Douglasie, wir wissen, wie wir mit ihr umgehen müssen.“
Vielfalt kann nicht schaden, findet Christian von Oldenburg, der die Baumarten aus der Fremde „Gäste“ oder „Besucher“ nennt. „Wichtig ist, nur, dass sie keine anderen Arten verdrängen.“ Köhn sagt über die Fichte, die ohne menschliches Zutun ebenfalls kaum in Schleswig-Holstein vorkäme: „Auch die Fichte gehört zu unserer Gesellschaft.“ Aber Monokulturen seien auf keinen Fall der richtige Weg, und an „Wunderbäume“, die den Klimawandel abkönnten, glauben beide nicht: „Kein Baum liebt Trockenheit“, sagt Köhn. „Auf nur wenige Arten zu setzen, ist verantwortungslos gegenüber den kommenden Generationen“, sagt von Oldenburg.
Was also hilft? „Mit der Natur arbeiten, nicht gegen sie“, sagt Köhn. Kleinteilig schauen, was auf welcher Fläche funktioniert. Das Ökosystem im Blick behalten und jeden einzelnen Baum unterstützen, wo es nötig ist: „ Der Wald wird die Antworten geben.“
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