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Beliebtes Talkshow-Wissen

Stefan Weidner macht sich so seine Gedanken zum nahenden Jahrestag in Sachen „9/11“: Als seien die USA das Übel schlechthin

Von Jan Feddersen

In knapp sechs Monaten jährt sich zum 20. Mal ein Ereignis, das gemeinhin als „9/11“ abgekürzt wird: Am 11. September flogen islamistische Attentäter unter anderem zwei Flugzeuge in das World Trade Center von New York und brachten mit den Wolkenkratzern auch eine Symbolarchitektur zum Einsturz, die, aus der Perspektive der Sym­pa­thi­san­t*in­nen der Anschläge, für Weltfinanz, Judentum und vor allem für die mächtigen USA standen.

Stefan Weidner, Islamwissenschaftler und Übersetzer arabischer Dichtung, hat zu diesem Erinnerungsdatum schon jetzt ein Buch verfasst: „Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“, vom Genre her ein etwas über 200 Seiten starker Essay, ist eine gelungene Bewerbungsschrift für die nahenden Talkshows, in denen zum runden Erinnerungsdatum Erläuterungen geboten werden, warum es dazu kam, was in New York geschah. Ja, wie nur?

Weidners Ausführungen fügen indes den bereits kurz nach den Attentaten formulierten Deutungen keine weiteren Pointen hinzu, lediglich aktualisiert ist sein Stoff aufbereitet; er ergänzt die, seinem Befinden nach, Erosion der „Pax americana“, lediglich mit Stichworten aus jüngerer Zeit, „Brexit“ oder „Gelbwesten“ beispielsweise, um seine Zeitdiagnose fürs Aktuelle zu runden.

Stefan Weidner: „Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart“. Hanser Verlag, München 2021, 256 S., 23 Euro

Den „Ground Zero“ will der Autor als Nullpunkt verstanden wissen, als „Verbrannte Erde“ einer Politik nach dem Ende des mit dem Fall des Sozialismus sowjetischer Prägung beendeten „Kalten Kriegs“. Der „Ground Zero“ der USA sei nicht nur das „Hiroshima“ der Neuzeit, also eine Art Gegenentwurf zu den US-Atombomben auf die japanische Stadt 1945, als, auch das führt Weidner an, eine Stadt zu einem Dystopia gemacht wurde, obwohl das im Krieg gegen das faschistische (und mit Nazideutschland alliierte) Japan gar nicht mehr nötig gewesen sei.

So entfaltet Weidners Buch ein an vielen linksalternativen und linksliberalen (und auch öfters rechtspopulistisch gesinnten) Stammtischen geübtes Erklärmuster: Recht eigentlich hätten sich die USA die Chose selbst eingebrockt. In Wirklichkeit seien die USA eine imperiale Angelegenheit, die sich die Feinde in aller Welt zurechtgezimmert hätte, militärisch, ideologisch und ökonomisch in Form des entgrenzenden Kapitalismus und die mit den islamistischen Anschlägen (damals, vorher und auch später) nur die Stürme ernteten, die sie selbst ausgesät hätten. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy ließ sich in dieser Weise vernehmen, auch der damalige ARD-„Tagesthemen“-Mann Ulrich Wickert hat dieses Klischee öffentlich zu bedienen gewusst: Schlimm, das mit den Skyscrapern, doof das mit den Opfern, klar, aber haben sie sich das nicht selbst zuzuschreiben?

Weidner entfaltet buchstäblich ein Verhängnis in aller Welt, das hauptsächlich den USA anzuhängen ist – der imperialen Macht schlechthin, die Demokratie nach dem Kalten Krieg nur wie Neoliberalismus buchstabieren könne. Nur passt diese Interpretation, die selbst in den USA, siehe Judith Butler und andere Theo­re­ti­ke­r:in­nen des Antiimperialen, sehr früh zur Blüte kam und dort weiter gedeiht, nicht so recht zu den Absichten und Plänen der islamistischen Attentäter:innen. Die werden von Weidner so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen: Dass der Zweck – falls es einen solchen je ausformuliert gegeben hat – der Anschläge nicht in fortschrittlichen Projekten zu finden ist, sondern in deren Gegenteil. Nämlich mit den qualifiziertesten Mitteln – die 9/11-Leute mussten sich auf die Ausbildungshöhe der Moderne bringen – die Moderne zu bekämpfen. Ein Göttliches auf Erden nach islamistischen Vorstellungen, antiliberal, anti­emanzipatorisch, antidivers und antisemitisch durch und durch.

Wenn denn die USA und ihre Alliierten wirklich so schrecklich wären für jene, für die Osama Bin Laden und Kom­pli­z:in­nen zu kämpfen vorgaben: Warum wollen dann immer noch Millionen am liebsten genau dorthin flüchten, etwa in die USA, jedenfalls weg aus der in den korrupten arabischen Staaten erstickten, behinderten Moderne? Weshalb möchten Menschen, gleich welchen Glaubens, und sei es ein koranfundierter, frei leben, jedenfalls frei von diktatorischen, lähmenden Zumutungen wie etwa in Ägypten, Syrien oder in Iran?

Weidner entfaltet ein an vielen linksalternativen Stammtischen geübtes Deutungsmuster

Hat 9/11 nicht vielmehr mit dem Versuch der „Tötung“ jener Moderne (in den USA, inzwischen auch in Taiwan, Südkorea, in den meisten Ländern Europas, welch Wunder nach 1945) zu tun, die gerade Menschen in abgehängten Ländern so fasziniert? Und dass diese Faszination auch den Erfolg von modernen Staaten und Gesellschaften wie etwa der USA, allem Trumpismus zum Trotz, der EU und auch Israel in Form von Neid markiert?

Weidner setzt am Ende auf die weitere Erosion der USA, sein Mekka indes heißt „Europa“, in das er alle Hoffnungen setzt. Das ist ein schönes Angebot für die kommenden 9/11-Remember-Talkshows: In Deutschland hat man für ein solches immer offene Ohren.

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