: Ein Viertel steht unter Schock
AUS LEEDS RALF SOTSCHECK
Kwadwo Boateng, ein junger Mann aus Ghana, ist gerade ausquartiert worden. „Ich wohne im Haus Nummer 67 in der Lodge Lane, direkt neben der Bombenwerkstatt“, sagt er in perfektem Deutsch. Er hat zwei Jahre lang in Mainz für die Lufthansa, für IBM und für die Post gearbeitet, im April zog er nach Leeds. „Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn du erfährst, dass du neben einem Sprengstofflager gewohnt hast“, sagt er. „Die Leute in diesem Viertel sind seit Tagen nicht zur Ruhe gekommen, sie haben Angst. Erst erfahren sie, dass einer der Londoner Attentäter, Shehzad Tanweer, hier gewohnt und um die Ecke im Imbissladen seines Vaters gearbeitet hat, und nun stellt sich heraus, dass die Bombe vielleicht sogar in diesem Viertel gebaut wurde.“
Beeston, der Stadtteil im Süden von Leeds – drei der vier Selbstmordattentäter, die vorige Woche drei U-Bahnen und einen Bus in der britischen Hauptstadt sprengten, stammen von hier. Der vierte, Lyndsey Germail, ist Jamaikaner und lebte in Aylesbury in Buckinghamshire.
In Beeston gab es noch nie Krawalle, sagt ein älterer Inder, der ebenfalls gerade ausquartiert worden ist. „Hier leben Briten mit Pakistanern, Jamaikanern, Rumänen, Bangladeschern, Russen, Polen und Afrikanern friedlich nebeneinander“, sagt er. „Es wäre der letzte Ort der Welt, wo ich die Terroristen gesucht hätte. Ich bin geschockt. Hoffentlich ändert sich nun nicht alles.“
„Ein netter Junge“
Der Imbissladen von Tanweers Vater, die South Leeds Fisheries in der Tempest Road, ist seit Donnerstag geschlossen und mit einer schwarzen Metalljalousie gesichert. Die Polizei habe Tanweers Vater geraten, seinen Laden eine Weile nicht zu öffnen, weil mit Racheaktionen gerechnet werden müsse, sagt ein Nachbar. Tanweers Familie lebt ein paar hundert Meter die Straße hinauf in der Colwyn Road, in einem geräumigen weißen Doppelhaus. Die Straße ist abgesperrt, der Mercedes der Familie steht in der Einfahrt.
Shehzad Tanweer, den seine Freunde Khaka nannten, sprengte die U-Bahn bei Aldgate in die Luft. Er war stolz darauf, Brite zu sein, behauptet sein Onkel Bashir Ahmed dennoch. Der 65-Jährige mit dichtem Haar und grauem Schnurrbart lebt seit 1961 in Leeds. Shehzad sei ein netter, normaler Junge gewesen, der in jeder freien Minute Cricket gespielt habe. Ahmed erzählt, dass sein Neffe Anfang des Jahres für ein paar Monate in Pakistan war, wo er Arabisch gelernt und den Koran studiert hat. „Manche Eltern machen sich Sorgen um ihre Söhne, wenn sie in die Kneipe gehen“, sagt er leise. „Shehzads Eltern waren froh, dass er stattdessen in die Moschee ging. Er war ziemlich religiös, aber er interessierte sich nicht für Politik. Ich traf ihn zuletzt am Tag vor den Anschlägen, er wirkte sehr ausgeglichen. Ich kann nicht glauben, was er getan hat.“ Ahmed meint, dass sein Neffe im pakistanischen Lahore rekrutiert worden sei. „Wir haben alles verloren, wofür wir jahrelang gearbeitet hatten, einschließlich des Respekts der Nachbarn“, sagt er. „Wie werden sie reagieren? Wir sind zutiefst blamiert worden. Ich glaube nicht, dass wir hier bleiben können. Die ganze Familie ist am Boden zerstört.“ Shehzad Tanweers Bruder Rizwan geht auf die Oberschule, seine Schwester Tiliat studiert an der Universität von Leeds, eine andere Schwester, Tabasum, ist Managerin eines Schuhgeschäfts.
Die Eltern, Mohammed Mumtaz und seine Frau Parveen, kamen vor 30 Jahren aus dem pakistanischen Faisalabad nach England. Mumtaz arbeitete zunächst bei der Polizei, bis er sein Geschäft aufmachte. Neben dem Laden zweigt die Hird Street ab, eine trostlose Straße. Die meisten Häuser sind unbewohnt und verfallen rapide, die Fenster sind vernagelt. Am Ende stößt die Straße wieder auf Lodge Lane. Sie ist mit blau-weißem Band abgesperrt, Polizisten stehen Wache.
Rechts, am Ende der Lodge Lane, sieht man eine Moschee. Nebenan liegt das ehemalige Haus des Hamara-Gemeindeprojekts, ein Jugendzentrum, das vor 15 Monaten in ein größeres Gebäude in der Nähe umgezogen ist. Seitdem stand das Haus leer und wurde von den Attentätern als geheimer Treffpunkt benutzt, behauptet einer der Nachbarn. In der Badewanne habe man Bombenzünder gefunden, heißt es. Die Experten der Armee sind mit einem Roboter angerückt, mit dessen Hilfe sie jeden Winkel untersuchen. Die Anwohner werden in Minibussen ins South Leeds Sports Centre gebracht, das wenige hundert Meter entfernt am Ende der Beeston Road liegt. Die Fahrt führt vorbei an der Hillside Primary School, wo ein anderer Attentäter, Mohammed Sidique Khan, als Hilfskraft gearbeitet und sich vor allem um die Kinder von neuen Immigrantenfamilien gekümmert hat. Aus dem riesigen alten Schulgebäude, dessen drei verschiedene Eingänge für Jungen, Mädchen und Kleinkinder aus vergangenen Zeiten stammen, dringt laute Musik. In der Aula findet ein Musikkurs statt. Die 12-jährige Jade, die auf dem Schulhof spielt, erzählt mit einer Mischung aus Schrecken und Stolz, dass ihre Cousine noch vor zwei Wochen mit Khan auf einem Klassenausflug in London war.
Während die Bewohner der Lodge Lane an der Schule vorbei in ihr Notquartier gefahren werden, in dem sie die nächsten Tage verbringen müssen, dürfen die Mieter aus Alexandra Grove in einem benachbarten Teil von Beeston wieder in ihre Häuser zurückkehren. Die flachen Gebäude liegen in einer kurzen Sackgasse. Die Polizei hat eine Sichtblende um das Haus Nummer 5 errichtet. Dort, in der winzigen Wohnung im Erdgeschoss, hat man genug Sprengstoff für fünf weitere Bomben gefunden.
Sarah kannte die Bewohner nicht. Die alte Dame mit grauer Dauerwelle und einem geblümten, langen Kleid läuft gebückt an einem Stock. In der rechten Hand hält sie einen Plastikkäfig, in dem sie ihre Katze transportiert. „Wir waren drei Tage in einem Gemeindezentrum ausquartiert“, sagt sie. „Jetzt wollen wir endlich wieder nach Hause.“
Während Sarah und ihre Katze durch die Absperrung von einem Polizisten zum Haus gebracht werden, kommt ein anderer Beamter mit einem Vogelkäfig, in dem ein Kanarienvogel sitzt, aus der Zone und stellt den Käfig in einen Polizeitransporter, wo bereits drei kleine Hunde untergebracht sind. Die Tiere sollen einer Frau gehören, die neben der Bombenwerkstatt wohnt.
Die Gegend ist nicht sehr einladend. Quer über die Straßen mit den typisch englischen roten Backsteinhäusern ohne Vorgärten sind Wäscheleinen gespannt, die wenigen Grünflächen sind völlig verdreckt: leere Flaschen, die Überreste von Fish and Chips, alte Zeitungen, Hundekot. An der Ecke ist ein Lebensmittelladen, der „Exotic Food Store“.
Davor steht Mark Harris, der Chef des Stadtrats von Leeds. Der Muslim gehört den Liberalen Demokraten an. Seine schwarzen Haare sind lang, er ist trotz der Hitze korrekt im schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte gekleidet. Harris, Mitte 50, spricht schnarrend und ist wegen des Lärms, den die Hubschrauber machen, kaum zu verstehen. Offenbar hat er eine schwere Operation hinter sich, bei der ihm eine Platte in den Kehlkopf eingepflanzt wurde, die seine Stimme verstärkt. „Was hier passiert, ist nicht typisch für Leeds“, sagt Harris. „Leeds ist eine große multikulturelle Stadt, es hat hier nie Extremismus oder Fanatismus gegeben. Für uns in der muslimischen Gemeinde ist das ein Schock.“ Natürlich befürchte man Racheakte, aber die seien, in Beeston jedenfalls bisher, ausgeblieben. „Die Menschen von Leeds haben ihren muslimischen Mitbürgern keine Schuld gegeben“, sagt Harris. „Sie haben die Muslime metaphorisch umarmt.“
So viel Wunschdenken
Dennoch geht die Angst um, auch in der Moschee in der Thornville Road. Es ist ein hässlicher Bau mit dunkelblauen Fenstern, gedrechselten grauen Säulen und grünen Minaretten. Auf der Internetseite der Moschee heißt es, dass man einen privaten Wachschutz organisiert habe, weil die Polizei keine Beamten abstellen wollte.
In einer Presseerklärung haben die Imame von Leeds ihre Hoffnung ausgedrückt, dass „alle Täter möglichst schnell gefasst werden, um zu zeigen, dass das Gute immer über das Böse wie den Terrorismus siegen“ werde. Wenn man aber weiterfragt, stellt man fest, dass die Äußerungen von Harris und der muslimischen Führung Wunschdenken sind.
In Leeds gehören nur 8 Prozent der Bevölkerung ethnischen Minderheiten an, im benachbarten Bradford sind es fast dreimal so viele. Rechtsextreme Gruppen wie die British National Party (BNP) haben schon lange versucht, in den beiden Städten Fuß zu fassen. Seit den Anschlägen von London benutzt die BNP auf ihren Flugblättern Fotos des ausgebombten Busses der Linie 30 und fragt: „Ist es nicht Zeit, dass ihr auf uns hört?“
Der Besitzer eines kleinen Zeitungsladens an der Lodge Lane sagt, er habe Angst um sein Geschäft. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. „Die Beziehungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander sind nicht gut“, sagt er. „Für die ältere Generation ist es ganz okay, aber die weißen und asiatischen Teenagerbanden bekämpfen sich ständig. Sobald sie aufeinander treffen, macht es bumm.“