: Der Wahnsinnstunnel
Nach 10 Jahren voller Proteste, Fehlplanungen und Verspätungen soll im September der Tiergartentunnel öffnen. Während sich damals noch Naturschützer an Bäume ketteten, ist es längst still geworden um den teuren Mammutbau. Woran liegt das? Die Geschichte einer unterirdischen Planung
von ULRICH SCHULTE
Man kann sagen, dass Gras über die Sache gewachsen ist. Eine ganze Menge Gras. Schließlich geht es um 190.000 Kubikmeter Beton, die das Land in den vergangenen zehn Jahren unter dem Tiergarten vergraben hat. Das entspricht fast 100 bis an den Rand gefüllten Schwimmbecken. Der verbaute Stahl wiegt so viel wie 4.000 Elefantenbullen.
Der knapp 2.400 Meter lange Tiergartentunnel, das war für Linke und Umweltschützer einmal ein Hassobjekt, eine Art Bankgesellschaft des Verkehrs. Das Mammutvorhaben vereinte Diepgen’sche Metropolenträume und die Idee einer Verkehrsplanung der 60er-Jahre, Autobahnen möglichst bis in die Innenstädte zu führen. Jetzt ist der Tiergartentunnel endlich fertig, mit fünf Jahren Verspätung. Am 7. September werden erstmals Autos durch die Doppelröhre zwischen Heidestraße und Landwehrkanal fahren. Als Ausstellungsstück modernster Verkehrs- und Sicherheitstechnik soll er eine wichtige Ader im Straßennetz der Innenstadt bilden. Die einstige Aufregung ist längst Pragmatismus gewichen.
Warum ist es so still geworden um den Tunnel? „Dass keiner mehr drüber redet, ist doch der beste Beleg für die Überflüssigkeit des Projektes“, ist die These des Grünen-Politikers Michael Cramer. Dies sieht der Projektleiter Helmut Geyer naturgemäß anders. Für ihn ist der Tunnel „etwas sehr Außergewöhnliches“, die Krönung seiner Laufbahn. Und Ural Kalender schließlich, Chef der Verkehrsabteilung in der Stadtentwicklungsverwaltung, nennt den Bau nüchtern einen „städtischen Straßentunnel“.
Das Jahrzehntprojekt polarisiert. Seine Geschichte beginnt Anfang der 90er-Jahre. Nach der Wende musste eine neue Strategie für den Hauptstadtverkehr erdacht werden. In erster Linie ging es um eine Neuordnung des Bahnverkehrs. Ringbahn oder Achsenkreuz – das waren die Alternativen. Erstere, unterstützt auch von den Grünen, setzte auf die Sanierung der dezentralen Bahnhöfe. Denn das 20 Milliarden Mark teure Achsenkreuz erforderte nicht nur einen zentralen Hauptbahnhof, sondern auch die komplett neue Nord-Süd-Schneise. In einer dicht bebauten Stadt lässt sich das nur mit Tunneln realisieren. Dabei wurden dann auch die AutofahrerInnen großzügig bedacht. „Diese Planung musste zwangsläufig mehr Autos in die Innenstadt locken“, sagt Cramer.
Der Senat unter Eberhard Diepgen und die Bahn setzten sich mit der – etwas reduzierten – Variante zwei durch. 1994 schnürte die große Koalition das Planfeststellungsverfahren für eine unterirdische Trias: Autotunnel, unterirdische Nord-Süd-Trasse der Bahn und Röhre für die U-Bahn-Linie 5. Cramer, der heute für die Grünen im EU-Parlament sitzt, war damals der Verkehrsexperte der Berliner Fraktion und stellte extra einen Mitarbeiter für die Kampagne gegen den Tunnel ein. „Gegen Tunnelwahn und Autobahn“, lautete die Losung von Grünen, PDS, Umweltschützern und dutzender Initiativen, die sich in der „Antitunnel GmbH“ organisiert hatten. „Das war schon irre“, meint Cramer. Die Tunnelgegner organisierten Tiergartenbegehungen, bei denen sie von der Fällung bedrohte Bäume markierten, ließen sich bei Sit-ins verhaften, ganz zum Schluss ketteten sich einige an Bäume.
Ihre Befürchtung, der Tunnelbau würde den Tiergarten trocken legen und so die Grüne Lunge der Stadt zerstören, hat sich augenfällig nicht bewahrheitet. Obwohl die Arbeiter bei der so genannten Wand-Sohle-Bauweise anfangs in offenen Baugruben standen, fiel der Grundwasserspiegel ein paar Meter weiter nicht wesentlich – ingenieurstechnisch betrachtet ist das eine Meisterleistung. Dennoch blieben dem Tiergarten Verletzungen nicht erspart. Auf Luftbildern aus jener Zeit zieht sich eine gelbliche Narbe durchs Grün.
Zehn Jahre, nachdem der damalige Kanzler Kohl mit der Macht einiger Zentner den ersten Spaten in den Boden rammte, ist klar: Das zweite Hauptargument der damaligen AktivistInnen war umso berechtigter. Wie bei hiesigen öffentlichen Bauten üblich, wurde der Bau etwas teurer als geplant. Für das Prestigeprojekt waren 385 Millionen Euro fällig, den überwiegenden Teil trägt der Bund. Nur mal ein Vergleich: Mit der Summe könnte das Land seine aktuellen Investitionen ins Radwegenetz 76 Jahre lang bezahlen. Auch die Betriebskosten sind mit 950.000 Euro pro Jahr happig, allein 600.000 Euro bezahlt das Land für Strom.
Wie ebenfalls in Berlin an der Tagesordnung, kam es beim Bau zu erheblichen Verspätungen. Die Hauptschuld daran trägt die Bahn AG, die mit dem Zentralbahnhof in Verzug geriet. Im Rohbau war der größte Teil der Röhren nämlich schon im Jahr 2000 fertig, nur unter der Baustelle des Hauptbahnhofs klaffte noch eine Lücke.
Die Grabung unter dem Tiergarten hielt ganz eigene Herausforderungen bereit, die die Bauarbeiter zu spüren bekamen. Die Betonwanne liegt wie ein Lastkahn im kühlen Grundwasser, auch in diesem warmen Sonnentagen herrschen unten 16 Grad. Projektleiter Geyer hat immer eine Jacke dabei, auch im Hochsommer. Manchmal standen Nebelschwaden in den Röhren, erzählt er. Eine Gewitterböe hatte schwüle Luft hineingedrückt, die kondensierte. „Man macht sich sonst nie Gedanken drum, aber im Tunnel wird die Luft zu einem Stoff, den man bedenken muss.“
Vor allem ist zu bedenken, wie man diesen Stoff – stark mit Abgasen durchsetzt – wieder los wird. Unter dem Abluftkamin am Hauptbahnhof saugen schiffschraubengroße vergitterte Propeller die Luftmassen durch wahre Betonhallen an und pressen sie auf ein stählernes Leitwerk, um sie in die Senkrechte zu treiben. „Wären die Rotoren eingeschaltet, würde ein Mann jetzt da am Gitter kleben“, sagt Geyer. Die Abluft wird durch zwei Kamine in den Himmel geblasen. Neben dem gläsernen Nordkamin am Hauptbahnhof gibt es einen Südkamin. Er versteckt sich im DaimlerChrysler-Gebäude am Potsdamer Platz, gekrönt von dem augenfälligen grünen Würfel. Allein, für – im Verhältnis zum Rest billige – Filter war in der Planung kein Platz. „Die Emissionen werden hochgepustet und setzen sich wunderbar auf den Tiergarten nieder“, ätzt der Grüne Cramer. Andere Einwände fanden bei den Planern sehr wohl Gehör. Eine Befürchtung der Philharmonie musste laut Planfeststellungsbeschluss ausgeräumt werden. Deshalb lagert die Straße unterhalb des Potsdamer Platzes auf einem Gummipolster, um den Wohlklang des Orchesters, aber auch die benachbarten Luxushochhäuser nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Unter Regierungsviertel und Spree liegen die drei Tunnel für Autos, Bahn und U-Bahn sehr nah beieinander. Es geht eng zu im Berliner Untergrund, Versorgungsleitungen, der Lauf der Spree und die Keller des Potsdamer Platzes mussten bei der Planung bedacht werden. Deshalb ist der Tiergartentunnel kurvig, was durchaus Vorteile hat. „Den bekannten Sogeffekt, dass Leute im Tunnel schneller fahren, werden wir nicht haben“, sagt Projektleiter Geyer.
Wer Geld hat, bekam beim Bau eine Extrawurst. DaimlerChrysler und Sony haben unter dem Potsdamer Platz eigene Zufahrten. Auch die Tiefgarage der Bahn unter dem Hauptbahnhof hat eine eigene Abzweigung. Das geht, weil der Tunnel keine Autobahn ist – sondern planungsrechtlich eine ganz normale, aber tiefer gelegte Stadtstraße mit Tempo 50 – ein „städtischer Straßentunnel“ halt. Dies ist auch die offizielle Losung, die man von Verantwortlichen zu hören bekommt, wenn es um die vermeintlich schlechte Anbindung des Tunnels geht, die Autofans beklagen. Absurderweise kritisierte in den letzten Wochen ausgerechnet der ADAC die Luxusröhre, der Club will noch mehr Beton. Im Süden fehle die Weiterführung zum Stadtring A 100, selbst die Rampen, die auf die Straßen am Landwehrkanal führen, wurden als „zu steil“ kritisiert – das Fahrschultrauma „Anfahren am Berg“ verfolgt eben auch gestandene Lobbyisten.
Die Befürchtung des ADAC, dass eine unterirdische Staufalle entsteht, teilt der grüne Tunnelgegner Cramer, wenn auch aus ganz anderen Motiven. Die Anschlussstelle im Süden zum Beispiel, die auf die viel befahrenen Straßen neben dem Landwehrkanal führt, sei auf einspurigen Normalbetrieb ausgelegt. „Nur wenn man Sicherheitsaspekte zurückstellt, könnte die Standspur mitbefahren werden.“ Sicher ist, dass viele Autofahrer in den ersten Wochen nach der Öffnung im Norden einen Umweg fahren müssen. Die Ausfahrt zur Invalidenstraße, einer stark genutzten Innenstadtumfahrung, ist erst Ende Oktober fertig.
Hat Berlin tatsächlich ein weiteres unnützes Großprojekt in den märkischen Sand gesetzt? Unsinn, der Tunnel werde überlastete Straßen der Umgebung wesentlich entlasten, hält Ural Kalender, oberster Verkehrsfachmann der Stadt, dagegen. Einige Routen sind momentan chronisch überlastet – die Hofjägerallee am Großen Stern zum Beispiel, oder auch die Friedrichstraße. „Mit den Mittelinseln für die U-Bahnhöfe und der Tram ist sie eine typische Einkaufsstraße und für den Durchgangsverkehr völlig ungeeignet“, sagt Kalender. 50.000 Autos sollen künftig täglich durch den Tunnel brausen. Für einen Vergleich bietet sich die Leipziger Straße an, die auch zwei mal zwei Fahrspuren hat. Dort fahren 43.000 am Tag.
Und die Staus? Verkehrsfachmann Kalender hält die einspurigen Ein- und Ausfahrten für unproblematisch, weil sich die Führung vor der Ampel auf mehrere Spuren ausweitet. „Bei Stadtstraßen sind nicht die Strecken selbst das Problem, sondern Knotenpunkte vor Ampeln oder Einmündungen.“ Und hier, findet Kalender, böte die Planung reichlich Aufstellfläche. An der Ausfahrt zum Landwehrkanal könnten sogar noch Flächen, auf denen derzeit Reisebusse parken, in Betrieb genommen werden. Außerdem folgt die Stadtentwicklungsverwaltung einer schlichten Weisheit: Aus dem Tunnel kommt vorne nur raus, wer hinten reinfährt. Falls also tatsächlich zu viele BerlinerInnen mit Tunnelblick fahren wollen, kann die Verkehrsmanagementzentrale durch andere Ampelschaltungen reagieren. Es sei kein Problem, den Verkehr durch längere Grünphasen auf andere Straßen umzuleiten, sagt Kalender.
Sicher ist, dass die BerlinerInnen in wenigen Wochen eine Luxusröhre befahren können, einen Rolls Royce unter den Tunneln. Für einen Brand zum Beispiel wäre er gut gerüstet – für jeden Tunnelbauer der Supergau. Deshalb fügt Projektleiter Geyer jedes Mal, wenn von Feuer die Rede ist, automatisch den Halbsatz „was wir natürlich nicht hoffen“ hinzu. 41 Notrufmelder stehen im Fall des Falles bereit, 19 automatisch öffnende Fluchttüren führen in die Parallelröhre, ein ausgeklügeltes Notleuchtensystem weist den Weg.
Die Videoüberwachung ist ein Albtraum für jeden Datenschützer, 112 intelligente Kameras sind installiert. „Wenn etwas im Bild passiert, was nicht programmiert ist, wird die Kamera in der Leitstelle automatisch groß aufgeschaltet“, sagt Geyer. Die Computerschirme im Betriebsgebäude zeigen ständig einen Grundriss. Hier bliebe nicht unbemerkt, wenn jemand einen Feuerlöscher aus einer der Notbuchten klaut. Aber das hofft natürlich niemand. Der Wahnsinnstunnel hat schon genug Ärger gemacht.