PANKOWER ELTERN
: So ausgeglichen

Eltern sind schuld! Dafür sind sie da. Daran wirst du nichts ändern

„Wie diese Pankower Eltern mit den Früchten ihrer Lenden prahlen, das grenzt an Kindesmissbrauch!“, dachte ich heute Nachmittag, als ich verloren in der Schlange vor der Kasse stand, um mein langsam zerfließendes Eis zu bezahlen, während vorne ein Kind, das noch nicht mal sprechen konnte, von seinem Vater genötigt wurde, den Einkauf auszuwählen. „Welchen Saft sollen wir nehmen, Simon? Den? Oder lieber den anderen?“ Alle Erwachsenen um mich herum hatten so ein supermegariesengroßes Lächeln im Gesicht, damit jeder sehen konnte, wie glücklich sie waren und wie ausgeglichen. Und die Kinder hatten alle so niedlich verdreckte Münder und trugen diese reizenden Miniseemannshemden und sahen überhaupt so entzückend aus wie von Anne Geddes fotografiert oder von Bragolin gemalt.

Und plötzlich dachte ich: „Das ist doch pervers. Das ist ja, als ob die Erwachsenen ihre nackten Schwänze und Muschis präsentieren, so sehr prahlen sie mit den Beweisen ihrer Potenz und Zeugungsfähigkeit.“ Und dann überlegte ich, wie die Leute wohl mit ihren Kindern umgehen, wenn keiner zuguckt. Warum wurde im 19. Jahrhundert die Kindheit erfunden, wenn Eltern ihre Nachkommen heute wieder wie kleine Erwachsene behandeln?

Und plötzlich wollte ich den Typen an der Kasse schütteln und rufen: „Du bist nicht sein bester Freund, du bist sein Vater! Übernimm die Verantwortung und triff eine Entscheidung! Und halt nicht den ganzen Verkehr auf aus lauter Angst, dass er in dreißig Jahren Therapie machen könnte und dir dann irgendwas vorwirft! Das wird er sowieso. Eltern sind schuld! Dafür sind sie da. Daran wirst du nichts ändern. Und erst recht nicht, indem du ihn im Kleinkindalter überforderst. Also komm zu Potte und nimm dein Wechselgeld selber!“

Stattdessen hab ich ein supermegariesengroßes Lächeln aufgesetzt. LEA STREISAND