: Magdalena, die verrückte Heilige
KATHOLISCHES GLÜCK Schwächlich war Maries Großtante Magdalena, und sicher ein bisschen verrückt. 1866 hatte sie eine Marien-Erscheinung. Seitdem entwickelte sich Philippsburg zum „böhmischen Lourdes“
Wenige Kilometer weit entfernt von Großschweidnitz liegen in der Basilika in Philippsdorf hinter einem Vitragenfenster die sterblichen Überreste von Magdalena Kade, einer Großtante von Marie. Marie war gerade fünf Jahre alt, als Magdalena, die wie eine Heilige verehrt wurde, 1905 im Alter von 70 Jahren starb. Die Journalistin Schneider stieß in Maries Krankenakte auf deren Großtante: Marie hatte 1928 angegeben, sie sei Jesus – der Beginn ihrer psychiatrischen Behandlung.
Die Großtante Magdalena im nordböhmischen Philippsdorf war eine schwächliche, kranke Frau. Ihr Hausarzt schwankte in seiner Diagnose zwischen Hysterie und „histrionischer Persönlichkeitsstörung“. Bis sie in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1866 eine Marienerscheinung hatte und für ihre Familie und den Arzt vollkommen überraschend ihre Heilung verkündete. „Mein Kind, von jetzt an heilt‘s“, habe Maria zu ihr gesagt, berichtete Magdalena über Jahrzehnte den Pilgern, die mit ihren Krankheiten zu der wundersam Geheilten kamen. Die Zeitung aus dem protestantischen Nachbarort schüttelte sich vor Spott über solchen Aberglauben, der Hausarzt blieb bei seiner Skepsis – aber das katholische Weberdorf Philippsdorf, heute Filipov, glaubte an seine „Magdalena“ und wollte daran glauben. Philippsdorf wurde reich als Wallfahrtsort: Schon ein Jahr nach der Marienbegegnung waren tausende Pilger aus dem gesamten Umkreis gekommen, wenige Jahre später war Magdalena in katholischen Kreisen weltberühmt. Papst Pius XI. sah nach einer eingehenden Untersuchung der Vorgänge übernatürliche Kräfte am Werk und ernannte die von den geschäftstüchtigen Philippsdorfern erbaute Kirche zur „Basilika Minor“. Philippsdorf wurde oft das „nordböhmische Lourdes“ genannt, einer der großen Wallfahrtsorte der alten österreichisch-ungarischen Donaumonarchie.
Zwischen dem Schicksal der beiden Frauen Marie und Magdalena scheinen Welten zu liegen, und doch sind es nur 70 Jahre. Beide hatten wahnhafte Vorstellungen. Während Magdalena Kades wahnhafte Vorstellung von der katholischen Dorffrömmigkeit integriert wurde, sozusagen nutzbar gemacht wurde zum Ruhme des Ortes Philippsdorf, wird Marie 70 Jahre später ausgesondert als „unwertes Leben“, zwangssterilisiert und schließlich „euthanasiert“. Die Suche nach der Familiengeschichte, die Schneider in ihrem Buch „Maries Akte“ spannend beschreibt, führt so gleichzeitig in ein Stück Zivilisationsgeschichte.
Auch im Grenzort Neugersdorf, wo die deutschen Pilger sich für den Marsch nach Filipov/Philippsdorf zu sammeln pflegen, möchte man die Geschichte nicht aufgewühlt wissen. Beim Pfarrer sei die Buchveröffentlichung „auf Ablehnung gestoßen“, teilte die Bürgermeisterin von Neugersdorf im Herbst 2008 mit, und auf „Empfehlung“ der Bürgermeisterin unterblieb eine geplante Lesung mit der Autorin von „Maries Akte“.
Kerstin Schneider: „Maries Akte – Das Geheimnis einer Familie“, weissbooks, Frankfurt, 2008