Sieh einmal, hier steht er …

DER STRUWWELPETER 200 Jahre ist er alt, weltbekannt und sehr umstritten. Das berühmte Kinderbuch war vom Autor keineswegs als Mittel einer autoritären Erziehung gedacht

Das Buch erlaubt seinen kindlichen Lesern, sich der Lust an der Widersetzlichkeit hinzugeben

VON MANDY KUNSTMANN

Hier werden kleinen Rackern die Daumen mit großen Schneiderscheren abgetrennt, setzen sich leichtmütige Mädchen selbst in Brand und sterben mäkelige Suppenverweigerer am fünften Tage ihrer Hungerkur: Heile bunte Häschenwelten gibt es bei Heinrich Hoffmanns „Der Struwwelpeter“ nicht. Dafür Geschichten, in denen trotzige Kinder auf sadistische Art und Weise Bestrafung erfahren oder faulpelzige Jägersmänner von hinterlistigen Langohren querfeldein gejagt werden. Wie kommt es, dass ein Bilderbuch aus dem 19. Jahrhundert immer noch ein Bestseller ist?

„Dass die meisten Schulkinder und Jugendlichen von heute etwas mit dem Zappelphilipp, dem Daumenlutscher oder Paulinchen anzufangen wissen, dürfte weniger auf eine eigene Lektüre in früher Kindheit zurückzuführen sein“, schreibt Hans-Heino Ewers im Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt. „Die Geschichten dieses Bilderbuchklassikers sind zu einem populären Mythos geworden“, erklärt der Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität, die Verse sind zu „allerorts kursierenden sprichwörtlichen Redewendungen“ geworden.

„ ‚Konrad!‘, sprach die Frau Mama, ‚Ich geh aus, und du bleibst da.‘ “ Klar, wem würde da nicht sogleich „Der Struwwelpeter“ einfallen. „Wer für den Erfolg des Buchs allein die Drastik der geschilderten Strafen verantwortlich macht und als Grund die Fortdauer autoritärer Erziehungspraktiken anführt“, meint Ewers, „greift nicht nur zu kurz, sondern auch völlig daneben.“ So sieht es auch Bernhard Bueb. Für den ehemaligen Leiter des Elite-Internats Schloss Salem ist das umstrittenen Kinderbilderbuch keineswegs Mittel autoritärer Erziehung: „Der Struwwelpeter war nicht als Erziehungsbuch gemeint, das durch abschreckende Geschichten Kinder zum Einhalten von Verboten bringen sollte“, sagt der Verfechter von Disziplin und Gehorsam. Vernünftige Eltern hätten im Struwwelpeter immer unterhaltende Geschichten gesehen. Verglichen mit vielen Märchen, die von oft dramatischen Folgen für falsches Verhalten berichten, sei der Struwwelpeter eher harmlos.

Die Generation der 1968er hat das Buch mit den krassen Illustrationen aus den Kinderzimmern verbannt, gar einen „Anti-Struwwelpeter“ geschaffen. „Fälschlicherweise“, meint Ex-Salem-Chef Bueb, „ist es als Kinderbuch einer repressiven Erziehung verteufelt worden.“ Nur törichte Eltern würden den Struwwelpeter einsetzen, um Wohlverhalten zu erzeugen.

Warum „Der Struwwelpeter“ gerade bei Mädchen und Jungen so beliebt ist, kann Institutsleiter Hans-Heino Ewers leicht erklären: Das Buch erlaubt seinen kindlichen Lesern, „sich der Lust an der Widersetzlichkeit hinzugeben“. Der Nachwuchs könne sich der Lust an der Bosheit, der Lust an Straffantasien oder gegen sich selbst gerichteter Aggression hingeben. „Etwas ältere Kinder dürften sich über die maßlosen Strafen mokieren und deren Unernst erkennen, um dann mit dem Bösewicht lustvoll zu sympathisieren.“

Inzwischen ist der Struwwelpeter zum Weltbürger geworden: In mehr als vierzig Sprachen wurde das Buch übersetzt. Allein in Deutschland verkauften sich über 30 Millionen Exemplare. Und wie sehr das Bilderbuch auch Erwachsene beschäftigt, zeigen allein die mehr als siebzig deutschen Mundartversionen. Seit diesem Jahr hat der kleine Bursche mit den zerzausten Haaren und den viel zu langen Fingernägeln auch ein richtiges zu Hause bekommen: Im Sommer hat seine Heimatstadt Frankfurt ein Struwwelpeter-Museum eröffnet. Leiterin Beate Zekorn-von Bebenburg misst den Erfolg des trotzigen Schlingels mit einer einfachen Methode: „Schon allein die Anzahl der Verlage, die den Struwwelpeter verlegen, zeigt, dass das Buch immer noch ein Klassiker ist.“

Mehr als zehn deutsche Verlage haben das Kinderbuch im Programm. „Schon unter Dreijährige finden die Geschichten und Bilder unglaublich spannend“, berichtet Museumschefin Zekorn-von Bebenburg. Auch krasse Geschichten dürfen in Kinderbüchern einen Platz finden: „Die Kleinen brauchen Bilder für ihre eigenen, manchmal auch gewalttätigen Fantasien.“ Mit der Lektüre sollten Väter und Mütter besonders kleine Sprösslinge nicht allein lassen. Für Väter und Mütter hat die Fachfrau deshalb einen Rat: „Wichtig für Kinder ist, dass sie die Geschichten als Fiktion erkennen.“ Eltern sollten ihren Kindern erklären, dass sich der Autor die Geschichten nur ausgedacht hat. Besonders kritisch sei die Geschichte mit dem Daumenlutscher: „Im Gegensatz zum eigenen Tod, können sich kleine Kinder sehr wohl Verletzungen vorstellen.“ Über diese Geschichte sollte deshalb besonders geredet werden. „Kinder müssen selbstsicher sein und wissen, dass das nicht mit ihnen passiert, wenn sie am Daumen lutschen.“