: Von Schafen und Scherern
KINO Ungeschoren kommt niemand davon: die schöne Doku „Sweetgrass“
VON ISABELLA REICHER
Eine kleine Schafherde steht im Freien. Es ist Winter, das Grüppchen wirkt verfroren, trotz Pelz. Ein Schaf wird in Großaufnahme hervorgehoben – es kaut, und im Rhythmus dieser Bewegung schlägt die Glocke an, die das Tier um den Hals trägt (es trägt auch eine grüne Kennung am Ohr und eine Farbmarkierung in der Wolle). Wir sehen das Schaf im Profil, langsam wendet es den Kopf, und in dem Moment, als es frontal in die Kamera schaut, hört es abrupt auf zu kauen und das Läuten verstummt. Das ergibt einen schönen, irritierenden Kinomoment. So als fühlte man sich beidseits ertappt. Diese Szene sorgt bei Vorführungen für ehrliche Freude.
Später im Film tut sich ein langer enger Scheunengang auf. Männer gehen darin aufgereiht ihrer Arbeit nach. Tief vornüber gebeugt, halb in einer Art Schaukel hängend. In der einen Hand ein elektrisches Schermesser, zwischen den Beinen jeweils ein Schaf. Mit routinierten Griffen ziehen sie den Tieren die dichte Wolle ab. Gut eine Minute brauchen sie dafür. Danach werden die Geschorenen durch eine Luke ins Freie geschoben, torkeln leicht benommen und blökend über Winterweiden. Noch nach Monaten, wenn sich eine unförmige Masse von Leibern durchs Unterholz drängelt oder auf Steilhängen ins Stocken gerät, werden sich die kleinen Kammlinien und Schwünge, die das Schermesser gezogen hat, im Pelznachwuchs abzeichnen.
Vorher landen Lämmer unsanft in einem kleinen Gehege. Ein Mutterschaf hat gerade ein Junges aus seinem Leib gepresst. Es hätte noch Milch für ein zweites. Vielleicht wird eines der verwaisten Tierchen angenommen, die sich nun auf dem Neugeborenen türmen. Die knorrigen Männer und die Frau, die hier arbeiten, Lämmer sortieren, den langbeinigen Kleinen wärmende Wollstrampler anziehen oder eigenhändig Milch einflößen, handeln mit Ruhe und Gesetztheit, sie sind sich ihrer Sache sicher.
Die Kamera befindet sich nah am Geschehen. Wenn es die Situation erfordert, bewegt sie sich geschmeidig, zoomt, schwenkt. Es gibt wenige Schnitte. Der gesamte Film besteht aus solchen ruhigen, unkommentierten Sequenzen, die sich ganz unsentimental und aufmerksam in einem der letzten traditionellen, nichtindustriellen Schafzüchterbetriebe im US-Bundesstaat Montana umsehen. Sequenzen, die in erster Linie darauf ausgerichtet sind, ein Milieu, das von einem konkreten Arbeitszusammenhang bestimmt ist, zu beschreiben. Oder „aufzuzeichnen“, wie es in den End-Credits passender Weise heißt, weil dies dem Umstand stärker Rechnung trägt, dass hier zu den Bildern ganz untrennbar auch der Ton gehört: die Glocke, die plötzlich stoppt; das harte Mahlen, wenn die Tiere ihr Trockenfutter verzehren; die Bählaute, die in der Lämmerstation noch einmal ganz anders klingen als bei den älteren Tieren draußen auf der Weide; der Lärm bei der Schafschur, wo zum Geräuschgemenge auch Musikfetzen gehören („we’re on a highway to hell“). Die lautmalerischen Kommandos, der Singsang und die Monologe der Cowboys, die manchmal fließend ineinander übergehen: „Hey girls, looking pretty good tonight.“ Oder die gewaltige, nur von Tierlauten, Wind und Donner unterbrochene Stille.
Wenn es Frühsommer wird, dann werden die Schafe nämlich von der Farm hinauf ins Gebirge verlegt. Der Film folgt dem Viehtrieb von den Straßen, wo die unüberschaubare Herde noch von Fahrzeugen begleitet wird, zu den Schotterwegen und schließlich durch den Wald bis über die Baumgrenze hinauf – längst haben Pferde und Maultiere den Transport von Menschen und Ausrüstung übernommen.
Drei Sommer lang, von 2001 bis 2003, haben die US-Filmemacher Lucien Castaing-Taylor und Ilisa Barbash für ihren Dokumentarfilm „Sweetgrass“ auf den Hochweiden in Montana gedreht. Es sagt einiges über die Ordnung der Zeit und der Dinge dort oben aus, dass man dem fertigen Film die Montage aus mehreren Weidesaisons zu einer nicht ansieht.
Das Leben der Cowboys
In der zweiten Hälfte des Films verschiebt sich, in einer Gegenbewegung zur äußeren Umgebung (von der Farm in die Natur), die Perspektive von den Tieren zu den Menschen. Nun werden die lonesome cowboys ins Zentrum gerückt und die Tiere in weiträumigen Einstellungen gefasst; damit werden die filmischen Bezüge zum Spielfilm dichter. Einerseits, weil diese Cowboys – als Selbstdarsteller – großartige Filmfiguren abgeben; nicht nur in einem Fall schönsten Nervenverlierens, das sich in einer unflätigen Schafbeschimpfungstirade vor Gebirgspanorama äußert.
Und andererseits, weil sie Erinnerungen an den Western abrufen: von den Fiktionalisierungen der sheep wars, blutiger Territorialstreitigkeiten zwischen Rinder- und Schafzüchtern, wie sie sich im 19. Jahrhundert auch in Montana ereigneten, bis hin zu Ang Lees Melodram „Brokeback Mountain“ – dem man angesichts der Beobachtungen der realen Schafhirten nun rückblickend auch eine genaue Rekonstruktion der Arbeits- und Lebensweise auf der Alm attestieren kann. Einer Lebensweise, die inzwischen bereits historisch ist: Gewidmet ist Sweetgrass „dem Andenken der Raisland-Allestad Ranch, Sweetgrass, Montana, 192X–2004“. Da wird man dann doch ein bisschen sentimental.
■ „Sweetgrass“. Regie: Lucien Castaing-Taylor und Ilisa Barbash. USA 2009. 115 Min.