berliner szenen: Im Kiez kannten alle Maus
Als ich vor einigen Tagen den Rettungswagen in der Herrfurthstraße sah, wusste ich es sofort, dachte aber trotzdem: „Vielleicht holen sie ihn nur ab und retten ihn, deshalb heißt das Ding doch ‚Rettungswagen‘. Sie bringen ihn ins Krankenhaus, dort kann er warm duschen, bekommt was zum Essen und ein Bett.“ Ich hoffte es von Herzen.
Dann erfuhr ich über Facebook, dass er die Nacht davor gestorben war. „Ist nicht mehr wach geworden“, stand da. Auch bei Twitter wurde die Nachricht geteilt, denn im Kiez kannten alle Maus, wie man ihn nannte. Er schlief seit geschätzt einem Jahr neben einem Eingang im Schillerkiez. Früher sah man ihn in den Kneipen der Gegend und er hielt sich auch am Gleis der U-Bahn-Station Boddinstraße auf. Er sprühte Graffiti auf gefundene Holzteile, die er immer um sich herum hatte.
Bei Facebook schreibt jemand: „Denkt an ihn, wenn ihr seine Marke an Wänden und in U-Bahn-Tunnels seht.“ Seit er in der Herrfurthstraße gelandet war, war es schwer, mit ihm zu kommunizieren. Er redete ununterbrochen vor sich hin und lag tags wie nachts unter den Decken, die die Nachbar*innen ihm brachten. Auch Lebensmittel waren oft da, als ich fast jeden Tag auf dem Weg zu meiner Laufrunde am Tempelhofer Feld an ihm vorbeiging. Was tun, fragte ich mich jedes Mal, und weil ich keine Antwort fand, die sich richtig fühlte, tat ich nichts. Ich las in einem Artikel, dass eine Anwohnerin beim Sozialpsychiatrischen Dienst und bei der Polizei anrief, doch es kam letztendlich niemand.
Auf meinem Rückweg vom Feld mache ich um den Maus-Schlafplatz einen großen Bogen, denn ich möchte keine Kerzen und Blumen sehen. Ich denke an ihn und an die Tausenden wohnungslosen Menschen Berlins und schreibe. Ich zweifle sehr daran, dass das etwas bringt, doch es ist das Einzige, was ich jetzt machen kann.
Luciana Ferrando
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen