berliner szenen
: Da, nimm meinen Schnuller

Die Tage fallen mir grad ungewohnt schwer. Der Himmel ist grau, die Gesichter hinter den Masken sind lang, die Blicke undefinierbar oder sie huschen schnell weg, und ich bin müde. „Der Dezember“, sagt mein Nachbar am Morgen auf dem Hof und zeigt nach oben. „Der Dezember macht alles etwas duster.“

„Das hat mich noch nie beeinflusst“, sage ich. „Ich glaube, es ist Langeweile oder so. Irgendetwas fehlt.“ Später im Bus beobachte ich die Menschen um mich herum. Sie starren auf ihr Handy oder aus dem Fenster. Eine Frau mit einem Kinderwagen steigt ein, nimmt ihr Baby heraus und setzt sich vor mich hinter die Scheibe zur Tür. Das Baby ist etwa ein Jahr alt. Es trägt einen Anzug mit einer spitzen Kapuze und einen Schnuller im Mund. Auf dem Schoß der Mutter stützt es sich hoch und sieht über die Schulter zu mir. Es lächelt. Fast fällt der Schnuller aus dem Mund, so sehr lächelt es. Ich lächle zurück und überbetone meine Augen hinter der Maske. Das Baby nimmt seinen Schnuller aus dem Mund und bietet ihn mir an. Ich lehne dankend ab, sage: „Das ist lieb, aber der gehört doch dir.“

„Da“, sagt das Baby und streckt mir den Schnuller entgegen. „Da.“ Es ist sehr bestimmt und hält den Schnuller vor mein Gesicht. Die Mutter sagt: „Nehmen Sie ihn einfach kurz. Er kann sehr wütend werden, wenn man seine Geschenke ablehnt.“ Ich kichere und nehme den Schnuller. Das Baby zeigt auf meine Mütze und sagt: „Da“. Die Mütze ist ein Geschenk von meiner Nachbarin O. Sie ist leuchtend grün und wippt lustig. Ich wippe mit der Mütze extra hin und her. Das Baby lacht aus vollem Hals. Ich gebe ihm seinen Schnuller wieder und sage: „Danke, du, ich muss jetzt aussteigen.“ Am Ausgang winke ich. Bevor sich die Türen schließen, höre ich noch mal „Da“ und das baut mich wirklich auf.

Isobel Markus