Menschen sind schlechte Schachspieler

Es gibt etwa 600 Millionen Schachspieler auf der Welt, immer mehr spielen online. Betrachtungen zum Spiel während des Turniers „Skilling Open“

Hikaru Nakamura hat Spaß bei seiner Partie Foto: Screenshot/Bongcloud

Von Detlef Kuhlbrodt

Es ist schön, Dinge wieder zu entdecken. Ein funktionierendes Feuerzeug etwa unter dem Bett oder die Begeisterung fürs Schachspiel. Ich war vielleicht elf, als mir mein Opa Schach beigebracht hatte. In der Unterstufe der Oberschule hatten wir eine Weile Schachturniere gespielt und die Tabellen und Ergebnisse in Schönschrift ans schwarze Brett gehängt. Wir spielten jeden Tag, oft auch vor und nach der Schule. Nachdem ich Stefan Zweigs „Schachnovelle“ und das „Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse gelesen hatte, war die Schachbegeisterung auch gedanklich unterfüttert und in Narrative eingebettet. Wie man so sagt.

Eins der Narrative war Verlust: Nach einer Weile gewann ich alle Spiele gegen Opa, wir hörten auf, Schach zu spielen und guckten nur noch Sportschau. Ein einziges Mal hatte ich an einem Schachwettkampf gegen eine andere Schule teilgenommen und es nicht geschafft, den (älteren) Jungen der anderen Schule mit Dame-König gegen König matt zu setzen.

Der Verlust spielt in allen Gambitspielen die Hauptrolle. Meist ist es ein Bauer, den man als Chef der eigenen Figuren opfert, um eine bessere Position zu bekommen. Eigentlich ist es natürlich Opferbetrug und Kalkül. Das Lustige ist, dass es im Schach, wie im Leben, immer beides ist – kein Gambit ist unwiderlegbar und die schönsten Partien entstehen durch Fehler. Der deutsche GM Robert Hübner, der 1978 nur knapp daran scheiterte, den Weltmeister herausfordern zu dürfen („Massaker von Merano“), hat darüber zwei Bücher verfasst: „Fünfundfünfzig feiste Fehler“ und „Sechsundsechzig saftige Schnitzer“. Und er war damit gescheitert, Schachpartien patentieren zu lassen.

Kampf der Systeme

Ein paar Jahrzehnte war Schach Teil des Kampfs der Systeme. Als ich das Spiel gelernt habe, war Bobby Fischer Weltmeister. Die dramatischste Schachweltmeisterschaft war die von 1984 zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow in Moskau. Nach 48 Partien und 300 Spielstunden wurde das Match am 15. Februar 1985 abgebrochen, offiziell aus „Rücksichtnahme auf die Gesundheit beider Spieler“.

Die Schachsendungen, die davon in den dritten Programmen berichteten, waren nicht länger als 30 Minuten. Manchmal gab’s eine Spalte mit den Notationen der Spiele, die man andächtig am eigenen Schachbrett nachspielen konnte. Wir saßen damals im Schneidersitz auf Flokatis, auf dem kniehohen Tisch von Möbel Kraft – Farbton Birke, mit Rollen drunter – das Schachbrett. Meine Figuren waren aus einer Spielesammlung, und glänzten ein bisschen.

Seit März 2020 ist die Zahl der SchachfreundInnen stark angestiegen. Die Netflix-Serie „Queen’s Gambit“, die Ende Oktober herauskam und bislang von 62 Millionen Leuten geguckt wurde, ließ das Interesse an Schach – on- und offline – dann „explodieren“, wie es in der Washington Post hieß.

Der Weltelite folgen

Es ist Donnerstagabend und ich gucke ein paar Videos, in denen mein Lieblingsschachlehrer IM Eric Rosen gegen den Bot von Beth Harmon, der Heldin aus „Queens Gambit“, spielt. Dann beginnt die „Skilling Open“ im Twitchkanal von GM Hikaru. Die „Skilling Open“ ist das erste von zehn Turnieren der Champions Chess Tour 2021. 16 Großmeister aus der Weltelite spielen Schnellschachpartien um Preisgelder von insgesamt 1,5 Millionen Dollar. Die Partien werden nicht nur auf chess.com, chess24 (der Plattform von Weltmeister Carlsen) oder der Plattform Lichess übertragen, sondern auch auf Eurosport. Das Abschlussturnier ist im September.

GM Hikaru Nakamura ist Nummer eins im Blitzschach und steht auf Platz 20 der Weltrangliste im klassischen Schach. Mit 15 war ihm der Titel eines Grandmasters verliehen worden. Im August 2020 hat er einen Vertrag bei Team Solid (TSM) unterschrieben, „einer Art FC Bayern des Internets“ (SZ) und ist seitdem professioneller Gamer. Er ist der erfolgreichste Schachstreamer der Welt, hat über 600.000 Follower auf Twitch. Da er selber gerade spielt, übernehmen IM Anna Rudolf und IM Levy Rozman die Moderation in seinem Kanal. Beide haben ihrerseits Switch-Kanäle mit ebenfalls steigenden Abonnentenzahlen.

Anna Rudolf ist mehrfache ungarische Meisterin, lebt seit 2010 in Madrid und konzentriert sich seit 2017 vor allem auf ihre schachorientierten Aktivitäten im Internet; IM Levy Rozman, alias GothamChess, ist seit zehn Jahren Schachlehrer, lebt in New York und hat viele schöne Eröffnungsvideos auf Youtube veröffentlicht. Beide agieren bei den Übertragungen der „Skilling Open“ ein bisschen cheerleadermäßig und overexaggerated wie GM Anish später, als er bei ihnen zu Gast ist, ironisch anmerken wird. Mir macht es viel Spaß, mir von ihnen die Partien erklären zu lassen. Die offizielle Übertragung kommt eher CNN-mäßig daher.

Manchmal jubelt IM Rozman, etwa: „H5 – this will gonna get wild.“ Im Chatfenster gibt es unterstützende Postings: „(Blumenmoji) Spam this flower to give Hikaru Power.“

Am nächsten Vormittag spiele ich ein Spiel gegen Marcus Söder. Jedenfalls hat mein Gegner diesen Nick gewählt. Das Spiel war schlecht von beiden Seiten, ich bin von der Vorstellung kurz paralysiert, mit Marcus Söder Schach zu spielen; „Marcus Söder“ ist vielleicht konfus, weil er unter diesem Namen spielt. Irgendwie kann ich mir auch gut vorstellen, dass Söder manchmal eine Blitzparie Schach mit seinem Handy bei Lichess spielt.

Abends dann wieder die Vorrundenspiele der „Skilling Open“. Als Hikaru in Schwierigkeiten ist und den schwächeren Zug spielt, muntert Anna Rudolf die Zuschauerinnen auf, via Mojis im Chat positive Energie zu senden; gestern hätte das ja auch schon geklappt. Fast 40.000 schauen zu. Es läuft ganz gut.

Seit Oktober lässt die Netflix-Serie „Queen’s Gambit“ das Interesse an Schach explodieren, heißt es

Es gibt schätzungsweise 600 Millionen Schachspieler auf der Welt, 360.000 aktive Turnierspieler und 1.594 Großmeister. 35 davon sind weiblich.

Am Nachmittag des nächsten Tages besuche ich M.. Stolz sage ich meinen vorbereiteten Satz auf: „Hikaru ist ein Akronym von Haruki und Schach ein Akronym von Hasch“; er glaubt mir und ich freu mich, dass er darauf reinfällt; ähnlich wie der schwarze Bauer vorhin, der in seiner Gier übersehen hatte, dass er seine Dame verliert, wenn er mein Pferdchen aufisst, hatte M. das „c“ übersehen, das Schach mehr hat als Hasch.

Der Pfleger im Schachverein

Dann spielen wir wie immer Schach, während die Bundesliga im Radio läuft. Seitdem M. einen Pfleger hat, der im Schachverein spielt, hat sich sein Spiel verbessert. Ich spiele etwas übermütig, er gewinnt zum ersten Mal seit Monaten; Hikaru kommt in die Runde der letzten acht. Er sagt: „Das ist das Problem bei Schach, du kannst jede neue Idee nur in einem Spiel verwenden.“ Die Partien sind ja sofort im Netz verfügbar.

Typische Hikaru-Sätze lauten: „This is not a human move“ (über beste Züge, die die Engine empfiehlt), und: „This is quite a human move.“ Schließlich: „Humans aren’t good chess players.“ IM Rosen wiederum sagt oft „Let’s play this“ oder „maybe this“; andere sagen das auch, aber Eric Rosen sagt es am besten. Es macht Spaß, aber sobald ich während meiner sonntäglichen Partien bei Lichess damit anfange, wissend „maybe this“ zu murmeln, wie die großen Schachstreamer, bevor ich einen Zug mache, geht’s fast immer daneben.

Hikaru verliert gegen Wesley So im Halbfinale. Mich wundert oft, dass Großmeister Züge übersehen, die die Kommentatorinnen sehen. Im Finale der „Skilling Open“ gewinnt Wesley So gegen Magnus Carlsen. Danach geht’s gleich weiter mit der Blitzschach-WM, die am 13. Dezember endet. Viele hoffen auf ein Finale zwischen Magnus Larsen und Hikaru Nakamura. Der hat das Halbfinale an seinem 33. Geburtstag gewonnen.