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Archiv-Artikel

„Wir sind Kosmopoliten der Provinz“

Belgien wird 175. Heute am Nationalfeiertag sind die Hauptfeierlichkeiten. Ministerin Isabelle Weykmans erklärt die Erfolgsgeschichte unseres unterschätzten und vielfach unbekannten Nachbarn – Europa muss nämlich belgisch werden

taz: Glückwunsch, Belgien wird 175. Können Sie das Land in drei Sätzen erklären?

Isabelle Weykmans: Belgien in drei Sätzen? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Belgier haben eines sicher gemeinsam: große Offenheit, Interesse für den anderen. Wir sind Kosmopoliten auch in der Provinz. Aber wenn man Belgien beschreiben will, muss man auch vom Wandel Belgiens von einem Einheitsstaat in einen Föderalstaat sprechen. Wir feiern ja auch 25 Jahre Föderalstaat. Unsere drei Kultur- und Sprachengemeinschaften sind in ihrer Struktur und Größe einzigartig in der Welt.

Deutsche wissen wenig über Belgien, halten es für halb Holland, halb Frankreich, am Rand ein bisschen deutschsprachig.

Meine Theorie ist: Man weiß über kleine Länder oft wenig. Aber das stört die Belgier wenig. Wir waren immer sehr diskret. Das ist unsere Bescheidenheit, nicht im Vordergrund stehen zu wollen.

Die Folge sind Klischees: Belgien sei dreckig, chaotisch, schwerfällig, man weiß von Sprachenstreit und Kinderschändern. Braucht Belgien einen PR-Berater?

Das Wissen ist gering und einfältig. Aber sich zu sehr nach außen zu hängen ist für Belgier nicht prioritär, weder für Bürger noch für Politiker. Der Belgier weiß, was Belgien zu bieten hat.

Der Kabarettist Konrad Beikircher hat mal gesagt: „Wer sein Haus nur halb fertig baut und vom Rest des Geldes lieber gut essen geht, kann ein so falscher Mensch nicht sein.“

Das trifft es gut. Das spricht auf den Belgier als Bonvivant an, als Genießer. Einer unserer Charakterzüge – und Klischee.

Was können wir Deutsche uns denn abgucken?

Ein bisschen solch romanischer Lebensweise vielleicht. Wir in Belgien kennen und leben die Mischungen verschiedener Kulturen sehr gut.

Und Sie als Politikerin kämpfen damit. Sie nannten das kürzlich die „verzwickten Kompetenzüberschneidungen in der Asymmetrie belgischer Gemeinschaften und Regionen.“ Klingt schwierig!

Kompetenzen sind in Belgien selten exklusiv. Immer gibt es vielerlei Einflüsse. Um Dinge nach vorne zu bringen, braucht man viel Zeit und Geduld. Wir haben eine enorm ausgeprägte Kultur des Dialogs und der Diskussion. Da wird vieles von rechts nach links durchgekaut. Oft gehen Diskussionen nächtelang, noch so ein Chrakteristikum. Le compromis à la belge ist ja bekannt.

Und ist solch ewige Konsenssuche sinnvoll?

Auf jeden Fall, sonst würde Belgien vielleicht nicht mehr existieren. Das wird oft verkannt. In der föderalen Struktur sind die zwei großen Kulturgemeinschaften im Dialog geblieben, miteinander für Belgien.

Vor gut 20 Jahren sind Flamen und Wallonen in Voeren noch mit Mistgabeln aufeinander losgegangen.

Ja, und solche Eskalationen haben wir zu vermeiden geschafft.

Belgien lebt eine Art inländisches Multikulti: Der Brüsseler Schriftsteller Geerd van Istendael sagt: „Europa muss belgisch werden oder es wird untergehen.“ Ist da was dran?

Ja, Belgien als Labor für Europa. Belgien lag immer an einer Kreuzung vieler Kulturen, war immer ein Durchfahrtsland. Wir haben es geschafft, in einem kleinen Land drei Kulturgemeinschaften in den offenen Dialog zu bringen – das hat sicherlich Modellcharakter für Europa.

Haben Belgier denn Nationalstolz? Oder sagen die Flamen nur „Ik ben Vlaming“ und die Wallonen „Je suis wallon“?

Mir persönlich war das Belgischsein immer sehr wichtig. Insofern fühle ich belgisch. Ansonsten ist das typisch belgisch individualistisch: Das macht jeder mit sich aus. Manchmal fühlen sich Wallonen besonders belgisch, manche Brüsseler sehen sich nur als Hauptstädter. Je mehr „belgische Arten“ man trifft, desto leichter ist man dem Belgischsein zugetan. Offenheit anderen Kulturen gegenüber ist wichtig, um sich miteinander identifizieren zu können. Belgien ist kompliziert in seiner Struktur und in seiner Entwicklung – das macht es auch für Belgier selbst oft schwer verständlich.

Manchmal versteht der Belgier Belgien nicht?

Manchmal ist das Land schon etwas surrealistisch, aber das macht es ja so spannend!

Sie fahren Donnerstag in Urlaub, am Nationalfeiertag. Etwa unpatriotisch außer Landes?

Ja, aber erst am Abend! Vorher werde ich in Eupen noch Prinzessin Astrid empfangen dürfen. Und alle werden zusammen feiern. Erst geht es in die Kirche, dann wird die Nationalhymne gesungen, dann Volksfest und gemütliches Beisammensein. Das gehört in Belgien immer dazu.

INTERVIEW: BERND MÜLLENDER