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„Ich hatte immer einen Hang zu Schnulzen“

Er hat für den Tatort komponiert und für Udo Lindenberg. Vor allem ist er aber ein erfolgreicher Jazz-Pianist. Martin Tingvall über Größenwahn, Hip-Hop-Kicks und Bananenschalenglück

Interview Jan Paersch

taz: Herr Tingvall, als ich Ihr Label kontaktierte wegen eines Gesprächstermins, hieß es: Schreiben Sie ihm in zwei Wochen, vorher komponiert er. Woran haben Sie gearbeitet?

Martin Tingvall: Ich habe Musik für eine Fernsehserie geschrieben: „Die Toten von Marnow“.

Moment, „Die Toten von Malmö“?

Das wäre ja noch besser! Das wäre mein erster Schwedenkrimi gewesen. Nein, Marnow in Mecklenburg-Vorpommern. Aber der Ort heißt in Wirklichkeit anders. Man versteht mich vermutlich nicht so gut. Ich bin ja Ausländer und spreche sehr schlecht Deutsch.

Sie übertreiben.

Na ja, dafür, dass ich nun schon so lange in dieser schönen Stadt Hamburg bin ... Eigentlich wollte ich ja nur meinen Freund Jürgen Spiegel für ein paar Wochen besuchen. Daraus sind dann 21 Jahre geworden – und Jürgen ist bis heute der Schlagzeuger im Tingvall-Trio.

Was schätzen Sie an Hamburg?

Den Puls! Ich liebe die Weite und die Stille in Schweden. Aber auch das hat Hamburg, es ist eine Stadt mit vielen Dörfern. Die hanseatische Mentalität ist der schwedischen nicht unähnlich. Wenn du einen Freund hast, dann ist er wirklich ein Freund.

Zurück zu Ihrer Kompositionsarbeit: Wie schreibt man Musik fürs Fernsehen?

Ich arbeite ziemlich altmodisch. Ich sehe mir den Film an und improvisiere dazu. Wenn ich Glück habe, sind ein paar Ideen dabei. „Marnow“ war meine erste Serie: Sie dauert viermal 90 Minuten, eine lange Zeit. Also experimentierte ich, spielte noch Schlagzeug und Gitarre ein. Dann fehlte noch ein Element. Ich fing an, zu schreien und komische Geräusche zu machen, und sie mit Effekten zu verändern. Ein großer Spaß!

Komponieren Sie generell viel?

Ich habe großen Output. Viele meiner Ideen taugen nichts, oder ich merke: Das habe ich vor ein paar Jahren genauso geschrieben. Dann fällt mir auf, dass ich gerade „House of the Rising Sun“ kopiert habe, mit minimaler Variation. Das kannst du nicht bringen. Neues zu erschaffen, ist wahnsinnig schwer.

Zu Ihrer Vita gehören auch erfolgreiche Kompositionen für andere Künstler*innen. Wie schwer ist das?

Ich bekomme schon einige Anfragen, aber vieles muss ich ablehnen. Ich kann nur etwas schreiben, wenn ich es richtig in mir spüre. Denn: Der Bauch lügt nicht. Wenn du zu 100 Prozent hinter einer Sache stehst, kann es nicht ganz schlecht sein. Dann bist du wenigstens ehrlich mit dir selbst, und das ist das Wichtigste. Ich bin ein extremer Perfektionist, immer in meinem Tingvall-Universum. Das ist eine Stärke, aber es fällt schwer, aus diesem Kosmos herauszugehen und etwas mit anderen zu machen. Mit neuen Leuten muss man eben von vorne anfangen. Ein gregorianischer Männerchor, das wär’s, und dazu ein Symphonieorchester! Der Größenwahn steckt in mir.

Wie verlief Ihre Entwicklung als Pianist?

Ich wollte klassische Musik studieren, aber dafür hat es nicht gereicht. Dann ging ich auf die schwedische Volkshochschule, eine Art Musikinternat. Meine ersten selbst geschriebenen Songs waren Rock und Pop, ich hatte immer einen Hang zu Schnulzen. Ich habe dann auch Thelonious Monk, Bill Evans und McCoy Tyner lieben gelernt – es gibt so viele Legenden. Aber ich weiß nicht, ob man die alle studieren sollte. Warum muss man die zehn größten Jazzpianisten kopieren, um seinen eigenen Sound zu finden? Es gibt so viel Musik, von der man lernen kann. Eine Zeit lang fand ich Eminem total gut. Mein Englisch ist schlecht, aber die Rhythmen haben mich total gekickt.

So fanden Sie Ihren Stil?

Es ist wie mit allen Dingen: Je mehr man kann, desto besser weiß man, was man nicht kann. Ich bin sehr traditionell mit meinem Stil. Andere manipulieren ihr Klavier und werfen Bälle hinein, das ist nicht mein Ding.

Wie haben Sie in Hamburgs Jazzszene Fuß gefasst?

Als ich 1999 nach hierher kam, habe ich sofort Anschluss gefunden. Ich habe auch in Musicals gespielt, aber da bin ich nach ein paar Shows eingenickt. Mann muss schon dahinter stehen. Ich hatte dann viel Glück: Du triffst jemanden, der Inga Rumpf kennt, und dann spielst du mit ihr. Du triffst jemanden, der Orange Blue kennt, und dann gehst du mit denen auf Tour. Und dann triffst du den Tontechniker von Udo Lindenberg.

Was passierte dann?

Ich kannte ihn gar nicht. Der Techniker kam Freitagabend zu mir nach Hause und drückte mir eine CD in die Hand: „Morgen Mittag spielst du die Stücke mit Udo!“ Da wird einem schon anders. Sie suchten einen Pianisten für ihre China-Tour. Ich spielte also vor, und fünf Tage später war ich mit der Band in Shanghai. Das ist Bananenscha­lenglück à la Tingvall.

Martin Tingvall

geboren 1974 im südschwedischen Schonen, lebt seit 1999 im Hamburger Westen.

Seit 2003 leitet der studierte Jazzpianist eines der erfolgreichsten deutschen Jazztrios: Das Tingvall-Trio – mit Schlagzeuger Jürgen Spiegel und Bassist Omar Rodriguez Calvo – besetzt regelmäßig die Nummer eins der deutschen Jazz-Charts, dazu kommen Platzierungen in den Pop-Charts und inzwischen drei Mal der Preis „Echo Jazz“.

Zuletzt erschien im Oktober das Album „Dance“ (Skip Records). Tingvall veröffentlichte zudem drei Soloalben und ein Weihnachtsalbum mit Rolf Zuckowski – und komponierte Musik unter anderem für mehrere Tatort-Folgen.

Bananenschalen bringen doch Unglück, oder?

Ich finde nicht. Ich meine damit: Man gleitet einfach in etwas hinein. Aber ich bin auch immer fleißig gewesen. Man muss eine Chance wahrnehmen, wenn man sie bekommt. Das passiert nicht oft.

Sie haben dann auch für Lindenberg geschrieben.

Mein erster Song für ihn kam auf sein Comeback-Album von 2008: „Stark wie zwei“. Ich schreibe vieles für Udo, das er gar nicht nutzt. Aber es macht Spaß. Andere spielen Fußball, ich setze mich hin und jodele Melodien, die vielleicht einmal von Udo Lindenberg gesungen werden. Vielleicht kommen die tausend nicht verwendeten Tingvall-Songs einmal zum Vorschein, vielleicht auch nicht. Ich stelle da keine Ansprüche.

Was treibt Sie an?

Musik ist für mich Beruf und Passion gleichzeitig. Egal, welche Stilistik man spielt, man sucht die Magie. Den Moment, in dem man aufhört zu denken. Wenn man das mit eigener Musik schafft, zusammen mit guten Freunden, und diese Momente einem Publikum vermittelt – das ist unbeschreiblich.

Haben Sie ein deutsches Lieblingswort?

Früher war immer alles geil. Jetzt nutze ich das Wort nicht mehr so oft. Wie wär’s mit „Moin“? Das ist immer gut.

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