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Elefanten in Woltersdorf

In Johannes Müllers und Philine Rinnerts Opernfilm über eine einst kolossale Filmstadt am Rande Berlinslässt sich Kolonialgeschichte genauso zeigen wie die Geschichte der Weimarer Republik

Die Bilderreise zieht auch Exotismen ans Licht Foto: Philine Rinnert

Von Tom Mustroph

Die Kreativität im Shutdown gebiert besondere Formate. Eine Art Site-specific-Dokumentar-Opernfilm stellten der Opernregisseur Johannes Müller und die gelernte Bühnenbildnerin Philine Rinnert mit „Nothing will be archived oder: Die Herrin der Welt“ auf die Website der Sophiensæle. Sie gruben dabei den Drehort für die achtteilige Monumentaloper „Die Herrin der Welt“ aus, die der Stummfilmpionier Joe May 1919 eben auf dem Gelände in Woltersdorf realisierte. Es handelte sich um ein gigantisches Eskapismuswerk mit Schauplätzen in China und Zentralafrika, in Nordamerika und Europa. Ganze Tempelstädte wurden dafür errichtet und für einzelne Massenszenen 1.500 Komparsen aus dem nahen und von Arbeitslosigkeit und Postrevolutionskater geplagten Berlin geholt.

Müller und Rinnert begeben sich auf dem Areal auf Spurensuche. Die Kamera fängt von Moos überwachsene Steine, einige Farbreste und in Stein geschlagene Ornamente ein. Ob es sich tatsächlich um Überreste der Filmstadt handelt, ist ungewiss. Aber man ist eingestimmt in die Entdeckungsreise. Im dichten Grün, das sich auf dem Gelände ausgebreitet hat, sind Musiker*innen aufgebaut, die stoisch ihre Instrumente bearbeiten. Sie sind der erste Einbruch der Kunst in den verwunschenen Ort.

In weiteren Einstellungen huschen ein paar Performer*innen umher. Einer von ihnen trägt einen dichten Schnauzbart, der an Karl May erinnert, Joe Mays Namensvetter, der auch an ganz großen Fantasien baute. Er begleitet eine Frau, die auf die Hauptheldin von Joe Mays Werk verweist. Die Europäerin, die es in den Dschungel verschlug und die sich dank des dort gefundenen sagenhaften Schatzes zur Herrin der Welt aufschwang, wurde ursprünglich von Joe Mays Ehefrau Mia gespielt.

Fotos vom Filmset des Jahres 1919 werden dann mit den aktuellen Aufnahmen verknüpft. Die Tempelbauten sind zu sehen, Menschenströme vor ihnen. Selbst echte Elefanten tummelten sich in Woltersorf. Kameramann und Cutter Manuel Kinzer hat für diese visuellen Verschmelzungen von einst und jetzt ein paar besondere Gimmicks parat. Flüssigkeiten werden auf die Fotos geträufelt, sodass sich eine Schicht auf die Bilder legt. Sie werden dadurch noch archaischer.

Auch wird der Entwicklungsprozess der Fotos umgedreht. Die chemische Lösung, die auf manche Fotos fällt, zersetzt diese. Gelegentlich entstehen Dämpfe, ganz wie in einer Alchemistenküche. Dampfendes Gebräu wird auch in den Originalfilmszenen von May erzeugt. Mit den Dämpfen treten die Bildspuren von 1919 und 2020 in einen sehr reizvollen visuellen Dialog.

Narrativ zusammengehalten wird die Bilderreise durch den Bericht des Filmarchitekten Erich Kettelhut. Seine Aufzeichnungen lassen das Treiben bei Woltersdorf plastisch vor dem inneren Auge entstehen. Er berichtet von der riesigen Komparserie, die teilweise extra aus Asien und Afrika kam.

Die Nebendarsteller*innen wohnten während der Dreharbeiten auch auf dem Gelände. Im nahen Berlin nahm man die Exotenstadt durchaus interessiert wahr, wie Faksimiles von Zeitungen und Ausschnitte aus Wochenschauen belegen. Kettelhut berichtet sogar, wie Frauen im eigenen Auto nach Woltersdorf fuhren, um nach Drehschluss ganz beglückt die Filmstars nach Berlin zu kutschieren. Diese Berichte werden in einer doppelten Spur vorgetragen. Hauke Heumann liest den Text, Steve Stymest trägt ihn in Gebärdensprache vor. Dies hat für in Gebärdensprache nicht bewanderte Zuschauer*innen eine ganz besondere gestische Qualität und korrespondiert gut mit der Rätselhaftigkeit der gesamten Geschichte. Rein praktisch lässt es taubstumme Menschen an dem Performancefilm teilhaben.

Müller und Rinnert kreieren mit „Nothing will be archived oder: Die Herrin der Welt“ ein sehr besonderes Werk. Ihren Projekten war auch zuvor oft ein großer Rechercheanteil zu eigen. Doch nur wenig von dem gefundenen Material wurde dann auf schlüssige Weise szenisch integriert. Die Filmform erlaubte vielfältigere Collage- und Überlagerungstechniken. Einziges Manko ist, dass man die Musik von Paul Frick und die Gesänge von Witch ’n’ Monk und Sabrina Ma nur in der Qualität hört, die die Boxen im Computer hergeben. Abgesehen davon scheint es, Müller und Rinnert haben nun ihr kongeniales Medium gefunden.

Im letzten Viertel stellen ihnen allerdings die eigenen Ambitionen ein Bein. Woltersdorf wird verlassen. Carinhall und Hermann Göring tauchen auf. Die Schorfheide als Jagdrevier der DDR-Nomenklatura wird auch noch schnell in den Film geschnitten. Klischees des Bekannten kontaminieren damit die Neuentdeckung. Dennoch: ein guter Wurf.

„Nothing will be archived“,

Theater/Film von Johannes Müller und Philine Rinnertwww.sophiensaele.com

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