piwik no script img

Wohlstand und Leere

Wiedergelesen: Den Roman „Spätestens im November“ hat der Hamburger Hans Erich Nossack 1955 aus der Perspektive einer Frau geschrieben. Es geht darin um Liebe auf den ersten Blick, ums Ausbrechen aus dem gewohnten Leben – und darum, wie das alles endet

Blick in eine verheißungsvolle Welt: Menschen schauen am 20. Juni 1948 durchs Schaufenster eines Schuhgeschäfts Foto: dpa

Von Frauke Hamann

Marianne Helldegen, 28, aus Uelzen, ist mit Max, einem Nahrungsmittelfabrikanten, verheiratet. Ihr und dem kleinen Sohn fehlt es vermeintlich an nichts in der Villa am Stadtrand. Höchst erfolgreich führt Max die väterliche Firma, stiftet auch einen Literaturpreis, der Reputation wegen. Bei der Verleihung ist er selbst dann nicht zugegen, aber Marianne geht hin. Als sie dem einige Jahre älteren Preisträger begegnet, Berthold Möncken, wissen beide sofort, dass sie zusammengehören.

„Mit Ihnen lohnte es sich zu sterben“, sagt er zu ihr. Sie fahren zur Helldegen-Villa, Marianne packt ein paar Sachen zusammen: „Ich wollte ja auch nicht viel mitnehmen, wozu? Nur das Notwendigste.“ Sie spürt, dass es die einzige andere Möglichkeit zu leben ist, die zu versäumen sie sich ewig vorwerfen, ja woran sie zugrunde gehen würde. Als Max heimkehrt und die beiden aufbrechen sieht, fragt er kühl: „Und der Zweck des Unternehmens?“

Dass man mitmachen muss: Diese Haltung dementiert „Spätestens im November“. Nossack (1901–1977) wählt als Erzählhaltung Mariannes Bewusstseinsstrom: Im Rückblick tastet sie die entscheidenden acht Monate ihres Lebens ab nach Möglichkeiten autonomer Perspektivgebung. „Es war alles richtig, was wir taten“, denkt sie beim Verlassen der Villa.

Wiedergelesen

Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen, es Gründe gibt.

Erneut lesen wir dafür Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten; weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte; weil man nicht loskommt von ihnen; weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.

Doch die Amour fou zum Schriftsteller Berthold gerät kaum drei Monate später an einen toten Punkt, auch das spürt sie. Die Empfindungen des Glücks verflüchtigen sich. „Er läßt sich nicht halten“, denkt Marianne, fühlt sich überflüssig an der Seite eines Mannes, der ganz auf sein Schreiben fokussiert ist.

Kurz entschlossen kehrt sie zu Ehemann und Sohn zurück, wird ohne ein Wort des Vorwurfs wieder aufgenommen. „Gefühle haben keine lange Lebensdauer“, ist Max überzeugt. Zäh und nüchtern müsse man sein, um Erfolg zu haben. Im November kommt Berthold Mönckens neues Stück am Stadttheater zur Uraufführung. Die Situation bei Helldegens ist angespannt, Marianne ist sich sicher, dass Möncken sie abholen wird. So geschieht es auch: Nach der Premiere klingelt es. Marianne trägt dasselbe Kleid wie im Frühjahr, packt den Koffer und verlässt Mann und Kind erneut – ein Déjà-vu. „DEATH IS SO PERMANENT“ steht auf dem Straßenschild an der unfallträchtigen Kurve, die Marianne und Berthold passieren. Und der Roman endet wie ein Film der Nouvelle Vague: Sie kommen zusammen ums Leben.

Nossack, 1919 Abiturient am traditionsreichen humanistischen Johanneum, brach das dann begonnene Studium nach Fach- und Hochschulwechsel 1922 wieder ab. Von 1924 bis Mitte der 1950er-Jahre führte er ein Doppelleben: Tagsüber arbeitete er in der väterlichen Kaffee-Import-Firma, die Abende gehörten dem Schreiben. So resultieren Nossacks erzählerische Präzision und sprachliche Klarheit aus einer Beobachterrolle, die er nicht nur dem eigenen Brotberuf und sich selbst gegenüber einnimmt, sondern gegenüber allen Menschen.

Mit klarem Blick legt er auch in „Spätestens im November“ die Erfolgsfixiertheit und Sprachlosigkeit während der westdeutschen „Wirtschaftswunderjahre“ bloß, erzählt vom wachsenden Wohlstand bei gleichzeitiger Leere zwischen den Menschen. „Wir dürfen keinen Fehler machen, wollte ich zu ihm sagen, doch als ich ihn ansah, ließ ich es“, heißt es am Anfang des Romans. Warum sind alle Protagonisten gefangen in Konventionen? Welche Entfaltungsmöglichkeiten hat Marianne in der Ehe mit dem Vorzeige-Unternehmer? Warum kann dieser die Familie nur als Hort des Konformismus begreifen? Und was kann ein Schriftsteller bewirken, der die eigenen Werke geringschätzt und die erhaltene Urkunde nach der Preisverleihung zerreißt?

Mit klarem Blick legt Nossack die Erfolgsfixiertheit und Sprachlosigkeit während der west­deutschen „Wirtschafts­wunder­jahre“ bloß

Man muss sich Nossack als spröden Menschen vorstellen, unsentimental, lakonisch. Über seine „Mutterstadt“ Hamburg schrieb er 1964 in sein Tagebuch: „Es ist unmöglich, zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein. Das sind unvereinbare Dinge.“ Über seine Wirkung als Schriftsteller hegte er keine Illusionen: „Man muß entweder ganz großen Erfolg haben oder gar nicht erst anfangen.“ Gut, dass Nossack schließlich ganz beim Schreiben blieb, gefördert übrigens von einem Unternehmer.

Er war überzeugt: Nichts für die eigenen Sachen zu tun, ist richtig, dann machen sie selbst ihren Weg, und sei es nach vielen Jahren. Das gilt gewiss für Nossacks Prosatext „Der Untergang“ (1948), im Nachkriegsdeutschland eine der ersten literarischen Befassungen mit den Schrecken des Bombenkriegs. Es gilt unbedingt aber auch für „Spätestens im November“, seinen bis heute erfolgreichsten Roman.

Hans Erich Nossack: „Spätestens im November“, zuerst 1955, zuletzt 2017, Bibliothek Suhrkamp, 277 S., 14 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen