: Leise und dennoch begehrt
GESCHLECHTER II Gisela Erler, die einst das „Müttermanifest“ verfasste, rät zum artgerechten Umgang mit den Geschlechtern. Trotz ihrer fragwürdigen biologistischen Haltung macht sie gute Vorschläge
Wer war jetzt noch mal arm dran? Die Jungs, die in der Schule schlecht sind, weil sie dort nicht toben dürfen, oder die Mädchen, die viel zu nett sind, um jemals Karriere zu machen? Beide, sagt Gisela Erler, neuerdings Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im grün-roten Baden-Württemberg und seit 20 Jahren Chefin einer Familienservice-Firma, die unter anderem maßgeschneiderte Kinderbetreuung anbietet. Ihr Buch „Schluss mit der Umerziehung“ plädiert daher konsequent für einen „artgerechten Umgang mit den Geschlechtern“, so der Untertitel.
Nicht ganz von ungefähr ist die Formulierung „artgerecht“ der Zoologie entnommen. Gisela Erler, in den achtziger Jahren Mitautorin des grünen „Müttermanifests“, ist Differenzfeministin: Sie meint, die Verhaltensunterschiede der Geschlechter seien biologisch angelegt.
Doch den alten Streit über nature versus nurture muss man hier nicht durchexerzieren. Erler bezieht sich nicht nur auf umstrittene Studien, sondern vor allem auf Erfahrungen mit ihrem Betrieb, der lange ein reiner Frauenbetrieb war und so einige Erkenntnisse über weibliche Talententfaltung ermöglichte – sei die nun biologisch angelegt oder früh erworben.
Männer sortieren sich in eine Hierarchie, lieben den Wettbewerb und versuchen, möglichst dominant zu erscheinen. Frauen dagegen kooperieren lieber, suchen eine gute Atmosphäre und entfalten sich am liebsten in flachen Hierarchien, so die gängig beschriebenen Muster, die auch Erler beobachtet haben will.
So weit – so undifferenziert: Was ist etwa mit den vielen nichtdominanten Männern? Charme entwickelt dennoch, was sie daraus macht: Nicht die Frauen müssen ihre Defizite, die sie vom Aufstieg abhalten, beseitigen, sondern Firmen müssen die Eigenarten der Frauen (und Nicht-Alphamänner) kennen und nutzen. „Frauen müssen nicht durchsetzungsstark sein, um einen guten Job zu machen“, erklärt sie. Man kann auch leise und nicht kompetitiv gute Arbeit abliefern, so ihre Erfahrung.
Wo Wettbewerb ein wichtiges Auswahlkriterium für Aufstieg und Erfolg ist, so erklärt sie, gehen viele weibliche Talente verloren, weil sie sich zurückhalten und die Konkurrenz meiden. Dagegen kämen viele Männer nach oben, die sich, gemessen an ihrer objektiven Leistung, viel zu viel zutrauten. „Aufstiegspfade, die auf Wettbewerb basieren, erzeugen also eine systematische Qualitätsverzerrung, indem sie auf sehr gute Frauen verzichten und mittelmäßige Männer an Bord halten.“
Analog zu diesen Ansätzen für Frauen plädiert Erler denn auch bei den Männern dafür, ihre Eigenheiten nicht zum Problem zu machen, etwa bei Jungen in der Schule. Das männliche Dominanzverhalten sollte eher aufgefangen als bekämpft werden: „Auch ein kleiner Pirat kann ein ein großer Liebhaber oder empfindsamer Vater werden.“
Erlers Position ist interessant, weil sie nach allen Seiten anschlussfähig ist: Das Diktum von der „Umerziehung“ im Titel ist eine Formulierung der biologistischen Konservativen, die Angst um ihre „natürliche“ Männlichkeit haben. Zugleich nimmt sie die Art weniger dominant agierender Menschen ernst und will ihnen den gebührenden Platz in den Machtpositionen der Gesellschaft einräumen. Doch wie soll das geschehen? Letztlich müssten die Dominanten sich dafür öffnen. Und das ist genau das, was etwa die Biologismusfeinde von der antisexistischen Jungenarbeit, die nach konservativem Diktum die „Umerziehung“ anstreben, wollen. Auch hier könnte Erler also anschließen.
Die Schwäche des Buchs ist sein fragwürdiger Biologismus: Wie so oft werden nur die Studien zitiert, die gerade passen. Die Stärke ist Erlers erfahrungsgesättigter Gedanke, dass man Individuen mit ihren Eigenarten ruhig mehr Platz einräumen kann, wie die Unternehmen, die weibliche Talente nutzen wollen. Das klingt angenehmer als der penetrante Rat an Frauen, mit ihren Leistungen doch bitte genauso anzugeben wie manche Männer. HEIDE OESTREICH
■ Gisela A. Erler: „Schluss mit der Umerziehung! Vom artgerechten Umgang mit den Geschlechtern“. Heyne Verlag, München 2012, 384 Seiten, 17,99 Euro